NACH DEM AUFATMEN DAS DEFINITIVE AUS

Die Lage ist einmalig: Keine fünf Minuten zu Fuss zum Bahnhof – Schulen, Einkaufszentren und sogar die beiden Stadtzentren von Biel und Nidau in Gehdistanz. Einst stand hier – gegenüber vom Schlachthof – das legendäre Restaurant Schönegg mit seinem lauschigen Biergarten, dem Pavillon und dem Badhaus an der Madretschschüss. Heute wundern sich Passantinnen und Passanten über die verwilderte Brache, eine klaffende Lücke mitten in der Stadt.

Als Angelo und Daniele de Falcis vor bald zwanzig Jahren das leergeräumte Grundstück erwarben, waren die guten Zeiten des Schönegg längst Geschichte. Das heruntergekommene Restaurant, das sich zum Schluss noch als angesagter Jugendtreff grosser Beliebtheit erfreut hatte, wurde samt den Nebengebäuden im Herbst 2003 plattgemacht, um einer rentablen Neuüberbauung Platz zu machen: Auf der gut 3000 Quadratmeter grossen Parzelle mit der Nummer 5376 plante Roth Immobilien bereits Ende der 1990er Jahre im Auftrag der Gassmann Media SA zwei Wohnblöcke und ein Geschäftshaus. Vater und Sohn De Falcis, Inhaber einer mechanischen Werkstätte im Lindenquartier, kauften die Liegenschaft 2004 mitsamt dem bewilligten Bauprojekt in der Annahme, damit ein sicheres Investment in ihre Altersvorsorge getätigt zu haben.

Eine Hoffnung, die sich schon bald zerschlug: Bereits kurz nach der Unterzeichnung des Kaufvertrags tauchten Gerüchte auf, dass das Bauprojekt möglicherweise vom Westast-Autobahnprojekt mit innerstädtischem Anschluss beim Bahnhof Biel beeinträchtigt werden könnte. Das war der Anfang der unglaublichen Geschichte, die uns Daniele De Falcis an einem Novembermorgen im Jahr 2021 in seiner Werkstatt erzählt. Auf dem Tisch liegt ein dickes Dossier, das 15 Jahre Hinhaltetaktik und behördliche Arroganz dokumentiert.

Falsche Versprechungen
Er und sein Vater – tüchtige Kleinunternehmer – hatten nach einem geeigneten Immobilienprojekt gesucht, um ihre Altersvorsorge auf eine sichere Basis zu stellen. Für den Kauf der Schönegg-Liegenschaft hatten sie ihr ganzes Vermögen zusammengelegt und alles auf eine Karte gesetzt. Statt des erhofften Einkommens hat die Investition bisher jedoch bloss Kosten und Ärger verursacht. Mehr noch: Die Frage, ob er für die jahrelange, behördlich verordnete  Blockade eine Entschädigung erhalten habe, ruft bei Daniele de Falcis bloss ein müdes Lächeln hervor: «Das Gegenteil ist der Fall: Ich habe Jahr für Jahr für das nutzlos gewordene Grundstück Liegenschaftssteuer bezahlt. – Im letzten Jahr hat sich der Steuerbetrag gar noch verdoppelt…»

Doch beginnen wir von vorne: Das erste Schreiben, das Daniele De Falcis aus dem Stapel herauszieht, datiert vom 30. September 2004. Darin bestätigt das Bieler Amt für Stadtplanung die Gültigkeit der bereits 1999 erteilten und bis zum 10. Oktober 2003 verlängerten Baubewilligung gegenüber den künftigen neuen Besitzern erstmals schriftlich. Aufgrund von Artikel 42 des kantonalen Baugesetzes, so der Brief weiter, müssten die Bauarbeiten nach der Handänderung spätestens bis zum 15. November 2004 wieder aufgenommen werden. Basierend auf diese schriftliche Absicherung, unterzeichneten De Falcis Anfang November 2004 den Kaufvertrag und leiteten umgehend die Bauarbeiten ein. 

Um aber ganz sicher zu gehen, dass sie ihr Projekt wirklich umsetzen können, suchten Daniele De Falcis und sein Vater auch noch das Gespräch mit dem Tiefbauamt des Kantons Bern. Im Dezember 2004 traf man sich im A5-Pavillion in der Seevorstadt, der damals noch im Bau war. «Ich habe den Anwesenden vier Fragen gestellt und auf jede eine klare Antwort erhalten: 1. Wird die Strasse offen oder unterirdisch geführt? Die Antwort lautete: unterirdisch. 2. Sind die Ausfahrten in der Nähe meines Grundstücks? Antwort: Nein, die Distanz zu Ihrem Bauprojekt ist so gross, dass der Kanton Bern nichts gegen das Projekt einzuwenden hat. 3. Könnte unser Projekt blockiert werden? Antwort: Nein. 4. Müssen wir mit einer Enteignung rechnen? Antwort: Nein.»

Als auch drei Wochen nach diesem Gespräch die verlangte schriftliche Bestätigung der Behördenaussagen ausblieb, hakte der Anwalt von De Falcis beim Tiefbauamt in Bern nach und liess sich vom zuständigen Beamten die oben erwähnten Punkte bestätigen. Dokumentiert ist dies in einem Schreiben vom 21. Januar 2005, mit Hinweis auf einen Plan, der die damals präferierte Linienführung der künftigen Autobahn zeigt, die das Schönegg-Grundstück nicht tangiert hätte. Es sollte aber anders kommen: «Sieben Jahre nach unserem Gespräch mit dem Tiefbauamt hatte sich alles, was man uns damals versichert hatte, ins Gegenteil verkehrt», fasst De Falcis zusammen.

Hinhaltetechnik ohne Ende
Doch im Jahr 2005 vertrauten Vater und Sohn De Falcis noch auf die Bestätigung der Behörden, die Bauarbeiten wurden daher in Angriff genommen. Die Tiefgarage mit 30 Parkplätzen war bereits fertiggestellt, als ein Anruf des damaligen Bieler Stadtplaners François Kuonen für erneute Verunsicherung sorgte. Am Telefon habe dieser von der Möglichkeit einer künftigen Enteignung gesprochen, erinnert sich Daniele De Falcis, weil neuerdings eine veränderte Streckenführung der Autobahn zur Debatte stehe, weshalb er im Moment dringend davon abrate, weitere Investitionen auf der Parzelle 5376 zu tätigen.

Daniele De Falcis ist ein liebenswürdiger Mensch – verständnisvoll und geduldig. «Monsieur Kuonen hat damals richtig gehandelt. Er wollte uns warnen, damit wir unser Geld nicht in den Sand setzen», nimmt er den ehemaligen Chefbeamten heute noch in Schutz. In der Folge habe es noch zahlreiche weitere Gespräche mit Kuonen geben. Eine schriftliche Aufforderung, die Bauarbeiten zu unterbrechen oder gar ein offizieller Baustopp waren aber nie ein Thema. Im Gegenteil: Die Stadt Biel hat die Baubewilligung «aus wichtigen Gründen im Zusammenhang mit der Planungsverzögerung des Autobahnanschlusses Bienne-Centre» noch zweimal verlängert, zuerst bis Ende Juli 2009 und schliesslich gar bis zum 31. Juli 2010.

Zu diesem Zeitpunkt war allerdings längst klar: Zumindest die beiden geplanten Wohnblöcke konnten vernünftigerweise nicht mehr gebaut werden. «Von den Balkonen hätte man einen direkten Blick auf die achtspurige Autobahnschneise gehabt – wer will schon an so einem Ort wohnen – mit all dem Lärm und Gestank? Diese Wohnungen hätte man weder vermieten noch verkaufen können!» begründet De Falcis seinen damaligen Entscheid, die Bauarbeiten vollständig einzustellen.

Statt dem erhofften Einkommen aus der Liegenschaft haben sich die De Falcis nur Kosten eingehandelt. Wegen der laufender Änderungen in der Autobahn-Planung war es während Jahren unmöglich, ein neues Projekt aufzusetzen. Lange Zeit sah es danach aus, als ob die Grundeigentümer für den Bau des Westasts sogar gänzlich enteignet würden. Doch es kam noch schlimmer: 2016 lag endlich das Ausführungsprojekt vor, für dessen Umsetzung genau 538 Quadratmeter der Parzelle 5673 enteignet werden sollten – auf den restlichen 2’500 Quadratmetern direkt an der Autobahnschneise gelegen wären De Falcis sitzen geblieben. «Diese Investition ist für uns ein völliger Verlust», klagte Daniele De Falcis damals zu Recht.

Die Hinhaltetaktik durch die Stadt Biel hatte selbstverständlich einen plausiblen Grund und kommt einem juristischen Trick gleich: Ohne offiziellen Baustopp von Seiten der Behörden lag die Verantwortung fürs Einstellen der Arbeiten einzig und allein bei den De Falcis. Und folglich hatten sie kein Recht ihren unbestreitbaren Schaden einzuklagen. Obschon ihr Projekt also aufgrund der laufend abgeänderten Westastplanung nicht mehr umsetzbar war, blieb der Schwarze Peter bei ihnen hängen. «Niemand wollte Verantwortung übernehmen: Bei der Stadt verwies man uns an den Kanton, der bei der Autobahnplanung die Federführung hatte, beim Kanton riet man uns, das Gespräch mit der Stadt zu suchen», bringt De Falcis das Dilemma auf den Punkt.

Kosten statt Nutzen
Aufgeben war für ihn und seinen Vater jedoch keine Option. Als nicht mehr ans Weiterbauen zu denken war, wollte er wenigstens die Parkplätze in der Tiefgarage vermieten. Dies wurde jedoch wegen fehlender Brandschutzeinrichtungen untersagt. Um die Brache, in deren Mitte die Tiefgarage mit der Zeit zur Bauruine mutierte, nicht vergammeln zu lassen, investierte De Falcis sogar erneut und liess Olivenbäume pflanzen. Doch auch dieses Unterfangen stand unter keinem guten Stern: Die Bäume sind alle eingegangen. Zudem lockte die Brache zu wilden Partys – die ungeladenen Gäste hinterliessen Zerstörung und Abfallberge. Als De Falcis bei der Stadt Unterstützung gegen die Eindringlinge und für die Beseitigung des Unrats erbat, wurde er abgewiesen.

Trotzdem liess er sich nicht unterkriegen und versuchte immer wieder, das Positive zu sehen und das Beste aus der Situation zu machen. Weil die offene Autobahn unabwendbar schien, plädierte er dafür, den Neubau des Regionalspitals mit angegliederter Pflegefachschule auf seinem und den umliegenden Grundstücken im Einzugsbereich von Bienne-Centre anzusiedeln – um den Schaden für die «geliebte Stadt Biel» zu minimieren, wie er es 2018 in einem Brief formulierte. Dies wäre notabene ganz im Sinne der damaligen städtebaulichen Begleitplanung gewesen, die entlang der Autobahnschneise grosse Bauvolumen als Lärmschutzwände in Aussicht stellte.

Soweit ist es bekanntlich nicht gekommen. «Für mich grenzt es an ein Wunder, dass diese Autobahn mitten durch die Stadt verhindert werden konnte», sagt Daniele De Falcis. Als er davon gehört habe, sei er überglücklich gewesen – nicht nur wegen des Grundstücks, sondern vor allem, wegen seiner Heimatstadt Biel.

Der einzige Wermutstropfen: Sein Vater, mit dem er das Grundstück einst erworben und das Projekt in Angriff genommen hatte, ist in der Zwischenzeit verstorben. Er wird sich über das langersehnte Happy End nicht mitfreuen können… Umso wichtiger ist es für Daniele De Falcis, das Ganze nun zu einem guten Ende zu bringen – auch im Gedenken an seinen Vater.

Erneuter Rückschlag
Anfang 2021 wurde mit der Abschreibung des Westastprojekts der Enteignungsbann auf den Liegenschaften entlang der geplanten Autobahnachse aufgehoben. Schon im Dezember 2020, noch bevor die Behörden die Empfehlungen aus dem Dialogprozess offiziell in Empfang genommen hatten, hatte sich Daniele De Falcis noch einmal mit einem Schreiben an die Bieler Stadtverwaltung gewandt. Nach jahrelangem zermürbendem Ringen endlich wieder voller Enthusiasmus und Hoffnung: Mit dem Ende des Westast hoffe er jetzt dort anknüpfen zu können, wo sein Bauprojekt vor 15 Jahren stehen geblieben ist, mit «einigen kleinen Modifikationen».

Diesmal erhielt er jedoch postwendend eine eindeutige Antwort von der Stadt: Das Projekt aus dem Jahre 1999 sei nicht mehr umsetzbar, die Baubewilligung längst abgelaufen. Eine bittere Enttäuschung für den Bauherrn, der nach einem ausführlichen Gespräch mit der Bieler Stadtplanerin sagt: «Madame Schmoll hatte ein offenes Ohr für mein Anliegen, für meine Situation hat sei Verständis gezeigt, aber ihre Argumente waren klar und nachvollziehbar.»

Seit diesem Gespräch im Frühjahr 2021 herrscht wieder Funkstille. Die üppige Natur, die sich in den letzten Jahren das Grundstück zurückerobert hatte, wurde im Sommer zwar radikal gerodet, seither hat sich aber nichts mehr bewegt. Weil die Parzelle 5376 in einer Zone mit Planungspflicht (ZPP) liegt, gelten besondere Bestimmungen. Die Stadt hat inzwischen als ersten Schritt einen Studienauftrag an ein Architekturbüro vergeben (siehe Kasten). Bis ein neues, angepasstes Bauprojekt überhaupt in Angriff genommen werden könne, so die Stadtverantwortlichen, werde noch einige Zeit vergehen.

Ein weiterer Rückschlag für Daniele De Falcis. Einmal mehr findet er jedoch verständnisvolle und beschwichtigende Worte für das Vorgehen der Behörden: «Die Zeiten haben sich verändert, dass man heute stärker verdichten will, ist nachvollziehbar und richtig», sagt er. Und hofft, dass mit der neuen Planung die Bruttogeschossfläche für sein Grundstück von bisher 5000 Quadratmeter auf 8000 Quadratmeter erhöht werden kann. Damit, so Daniele De Falcis, hätte er wenigstens eine kleine Kompensation für die jahrelangen Verluste.

Fakt ist: Die Parzelle 5376, die während Jahren bloss Kosten und Sorgen bereitete, gehört heute zu den spannendsten Grundstücken für die künftige Entwicklung der Stadt. Bauinvestoren haben den Braten gerochen. Deren Interesse ist gross, wie Daniele De Falcis aus eigener Erfahrung weiss: Wöchentlich erhalte er Anfragen von Kaufwilligen. Er will jedoch nicht verkaufen, sondern endlich seinen Traum verwirklichen: Ein neues, zeitgemässes Projekt mit einer gemischten Nutzung und viel Grün. Ob und wann er diesen Traum verwirklichen kann, bleibt jedoch weiterhin offen. Immerhin: Die Chance besteht, dass er beim Übertritt ins Rentenalter in rund zwölf Jahren doch noch eine Pension aus seinem Grundstück erhält…

 

 ZPP 2.5 «Schönegg»

Die Abteilung Stadtplanung der Stadt Biel hat bereits im Frühjahr 2021 die Grundlage sowie einen Fahrplan für die Entwicklung der Parzelle 5376 «Schönegg» erstellt. Demnach könnte frühestens in dreieinhalb Jahren mit der Umsetzung eines neuen Bauprojekts begonnen werden.

Dies, weil sich die Parzelle in einer Zone mit Planungspflicht (ZPP) befindet. Das heisst, bevor ein Bauprojekt entwickelt werden kann, muss zuerst eine Überbauungsordnung für das Gebiet erarbeitet und verabschiedet werden.

Der Entwurf für die Überarbeitung des aktuellen «ZPP 2.5 Schönegg» datiert vom 21. April 2021. Das fünfseitige Papier verweist auf die bereits in der städtebaulichen Begleitplanung zum Westast formulierten Prinzipien, wonach die Madretschschüss aufgewertet und die Zahl der Parkierungsflächen stark beschränkt werden soll. Zudem wird festgehalten, dass sich die Parzelle für eine stärkere Verdichtung eigne als die Ende der 1990er Jahre bewilligten 5000 Quadratmeter Bruttogeschossfläche auf fünf Stockwerken.

Das Bieler Stadtplanungsamt hat ein Architekturbüro mit der Ausarbeitung der Rahmenbedingungen sowie der Erarbeitung eines Pflichtenhefts für die weitere Entwicklung der Parzelle «ZPP 2.5 Schönegg» beauftragt. Dafür wurde ein Zeitraum von 6 Monaten veranschlagt. Anschliessend folgt eine Testplanung, bei der während weiterer 6 Monate unter Federführung des Stadtplanungsamts Varianten studiert und ein Konzept entwickelt werden. Auf dieser Basis sollen dann in einem nächsten Schritt ein Überbauungsplan erstellt und parallel dazu ein Ausführungsprojekt für das Bauvorhaben erarbeitet werden. Alles in allem dürften so mindestens drei weitere Jahre ins Land gehen, bevor auf der Schönegg-Brache ein neues Projekt in Angriff genommen wird.

 

© Bild und Text: Gabriela Neuhaus

 

 

DIE MÄR VON DER GROSSEN RUHE

Dem Baubeginn für den SBB-Tunnel bei Ligerz steht nichts mehr im Weg. Für das jüngste Monster-Bauwerk in der langen Geschichte der Flickwerke am linken Bielerseeufer müssen zwei weitere Wunden in die Reblandschaft geschlagen werden: Das Westportal des Tunnels zwischen La Neuveville und Ligerz wird auf der Höhe des bestehenden Strassentunnels in den Berg gerammt, das Ostportal bei Kleintwann gegenüber der kantonalen Fischzuchtanstalt.

Eine langersehnte, willkommene Beruhigung für das gesamte Bielerseeufer, verkünden die Bauherrschaft und ihre Promotoren. Das ist nicht bloss Augenwischerei, sondern eine freche Lüge. Fakt ist: Der Ligerzbahntunnel wird der überwiegenden Mehrheit der Anwohnerinnen und Anwohner am linken Bielerseeufer erhebliche Mehrbelastungen bringen. Gebaut wird er nämlich in erster Linie, um das letzte Teilstück auf der SBB-Transversalen zwischen Genf und St. Gallen auf Doppelspur zu erweitern. Dieser Ausbau hat zum Ziel, auf der Jurasüdfusslinie noch mehr Güterzüge durchzuschleusen. Weil zugleich die Streckenführung begradigt wird,  können die Züge künftig nicht nur öfter, sondern auch schneller durch die Gegend brausen.

Was man den Zugreisenden als sekundensparende Verbesserung verkauft, ist in Tat und Wahrheit mit gewichtigen Nachteilen verbunden. Sie werden künftig durch ein weiteres schwarzes Loch geschleust, wo sie heutzutage noch den Ausblick über den See und besonders den Blick auf das berühmte, idyllische Ligerzerchiuchli geniessen dürfen. Ein veritabler Nackenschlag für den Tourismus in der Region.

Zudem wird Ligerz künftig nicht mehr wie bis anhin bequem per Bahn zu erreichen sein. Wer das malerische Winzerdorf besuchen will, muss ab 2026 in Twann oder La Neuveville auf einen Bus umsteigen… Der versprochene Halbstundentakt für den Regionalzug zwischen Biel und Neuenburg ist dabei ein schwacher Trost – insbesondere für die Ligerzer Bevölkerung.

Bis es soweit ist, wird in den kommenden Jahren eine lärmige, staubige Baustelle die Lebensqualität rund um Ligerz beeinträchtigen. Auch hier das Gegenteil der versprochenen Ruhe…

Wenigstens Twanntunnel verhindern!

Ähnlich präsentiert sich die Situation in Twann, wo mit der geplanten Verlängerung des Ligerzer Autobahntunnels ebenfalls eine jahrelange Baustelle sowie zusätzliche Verkehrsbelastungen drohen. Mehr noch: Dem Baustelleninstallationsplatz und dem künftigen Ostportal müssten Häuser und Reben weichen. Das bedeutet: Eine weitere grosse Landschafts- und Ortsbildbeschädigung – ausgerechnet im historischen, denkmalgeschützten Weiler Wingreis.

Auch hier gilt: Der Twanner-Strassentunnel würde nach seiner Fertigstellung in rund 20 Jahren einer Handvoll Anwohnerinnen und Anwohner tatsächlich eine Entlastung vom Verkehrslärm bringen. Notabene auf Kosten der Landschaft sowie zahlreicher Bewohnerinnen und Bewohner zwischen Twann und Biel, welchen durch diesen Tunnel und dem vom Bundesamt für Strassen geplanten generellen Tempo 80 von Biel bis nach La Neuveville eine weitere Zunahme von Verkehr und Lärm zugemutet wird.

So kann und darf es nicht weitergehen! Der Ligerzer Eisenbahntunnel ist beschlossene Sache, da ist kaum mehr etwas zu machen. Anders präsentiert sich die Situation beim Autobahn-Twanntunnel: Hier ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Zwar hat das UVEK die Plangenehmigung erteilt, eine Reihe von Einsprechenden wollen diesen Entscheid aber ans Bundesverwaltungsgericht weiterziehen. Gut so!

Denn jeglicher Ausbau der Strassenkapazität am Nordufer des Bielersees steigert für den Transitverkehr die Attraktivität, diese Fahrstrecke zu wählen. Deshalb ist es wichtig, diese Entwicklung bereits heute zu stoppen und den Transitverkehr mit geeigneten Massnahmen vom Bielersee Nordufer fernzuhalten.

KNOCHENARBEIT, KREATIVITÄT UND AUSDAUER

Ein Autobahnprojekt stoppen, galt als Ding der Unmöglichkeit. Während Jahren wurden WestastgegnerInnen der ersten Stunde ausgelacht und angefeindet. Dank ihrer Hartnäckigkeit und Ausdauer konnte schliesslich nicht nur das Westast-Ausführungsprojekt gebodigt werden; dieser Erfolg setzt ein ermutigendes Zeichen für alle, die für eine lebenswerte Stadt und gegen die weitere Verbetonierung im Dienste von Profit und Verkehr kämpfen.*

Zum Schluss wollten sich alle als HeldInnen feiern lassen. Allen voran der Bieler Stadtpräsident Erich Fehr, der nach jahrelanger Blockade plötzlich Dialogbereitschaft markierte und im Vorfeld der Bieler Wahlen quasi über Nacht vom Westastturbo zum Verfechter einer Nachfolgelösung mutierte. Nun präsidiert er die neu geschaffene Behördenorganisation mit dem sperrigen Namen Espace Biel/Bienne.Nidau, welche die Empfehlungen aus dem Westast-Dialog umsetzen soll. Notabene nach altem Muster: Mit Unterstützung von «Experten» und Fachgremien, unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit.

Auch einige Verbandsfunktionäre sonnten sich im Rampenlicht, jede der am Dialogprozess beteiligten Schutzorganisationen wollte den Erfolg auf ihre eigenen Fahnen schreiben und für ihre Zwecke ausschlachten.

Vergessen und unter den Tisch gekehrt wurden dabei die jahrelangen Demütigungen und das zeitweise Versagen der Berufslobbyisten und Verhandlungsprofis. Fest steht: Ohne das Engagement von Aktivistinnen und Aktivisten aus der Bevölkerung, die sich während Jahren immer wieder trotz scheinbarer Aussichtslosigkeit unbeirrt ins Zeug gelegt haben, wären im Gurnigelquartier und auf dem Strandboden längst die Bagger aufgefahren.

KämpferInnen der ersten Stunde

Im Spätsommer 2007, als bekannt wurde, dass die von langer Hand geplante Autobahn teilweise in einer offenen Schneise durch die Stadt geführt werden sollte, gründete eine Handvoll Direktbetroffener im Gurnigel- und Mühlefeldquartier den Verein Lebensqualität im Quartier (LQV), um gegen dieses Vorhaben anzukämpfen. Während sich die Stadt und die Schutzverbände schon bald mit einem Kompromiss – der Verkürzung des offenen Grabens von 600 auf rund 200 Meter – zufriedengaben, liess der LQV nicht locker. Nach nächtelangem Aktenstudium und akribischen Recherchen gelang schliesslich der Nachweis, dass die Behauptung der Behörden, die offene Schneise sei gesetzlich vorgeschrieben, nicht der Wahrheit entsprach. Auf die Medienmitteilung des LQV folgte eine Titelgeschichte im Bieler Tagblatt – danach verebbte jedoch der Aufschrei schnell. Es sollte noch über 10 Jahre dauern, bis die damaligen Recherchen des LQV breite Anerkennung und Gehör fanden. Damals wollte die Politik partout mit der Stadtautobahn vorwärts machen. So wurden alle kritischen Organisationen, inklusive dem LQV, in die sogenannte Arbeitsgruppe Stöckli eingebunden. Das Resultat: Enttäuschung und Frust – die kritischen Stimmen hatten keine Chance und wurden durchs Band weg abgeschmettert. Im September 2014 genehmigte der Bundesrat das Generelle Projekt für die Westumfahrung Biel mit zwei innerstädtischen Autobahnanschlüssen und offenen Schneisen mitten durch die Stadt.

Unter den Westast-KritikerInnen machte sich Resignation breit. Bis eine kleine Gruppe von Planern im November 2015 eine Idee hatte: Sie gründeten das Komitee «Westast so nicht!» und luden zu «Stadtwanderungen entlang der Zerstörungsachse» ein. Damit konnten sie der Bevölkerung in Biel und Nidau endlich die Augen öffnen. Auf Flyern, die unermüdliche Freiwillige in sämtliche Briefkästen von Biel und den Nachbargemeinden verteilten, waren die drohenden Autobahnwunden visualisiert. So wurde der Westast, an dem zuvor jahrelang hinter verschlossenen Türen geplant worden war, langsam zum Stadtgespräch. Die ersten Blachen mit der Forderung «Stop Westast» tauchen an Häusern und Gartenzäunen auf, in der Vision 2035 erscheinen erste westast-kritische Artikel, NachbarInnen machen sich gegenseitig Mut, LeserbriefschreiberInnen entlarven die Westastpolitik der Behörden, kreative Geister erarbeiten Alterantivvarianten…

Das alles kümmerte die Behörden nicht. Opposition gegen ein derart grosses Projekt sei normal, kommentierte die damalige Baudirektorin Egger. Ungerührt puschte man beim Kanton die Planung vorwärts und lieferte die Pläne beim ASTRA ab. Als die Städte Biel und Nidau im Januar 2017 ihre «Städtebauliche Begleitplanung zum A5 Westast» präsentierten und im Frühjahr die Öffentlichkeit anlässlich der Planauflage erstmals die bisher unter Verschluss gehaltenen Pläne einsehen konnte, organisierten die immer zahlreicher werdenden Aktivistinnen und Aktivisten Workshops, um sich gegenseitig beim Schreiben von Mitwirkungs- und Einsprachebriefen zu unterstützen. Dort kam man miteinander ins Gespräch, tauschte Argumente aus, Ideen wurden entwickelt, Aktionen angeschoben.

Widerstand kommt in Fahrt

So etwa der Velo-Flashmob vom 20. Mai 2017 – für viele Teilnehmende ein Schlüsselerlebnis. Nur wenige Tage zuvor von einer Einzelperson gestartet, verbreitete sich die bunte Einladung über WhatsApp und soziale Medien in Windeseile – schliesslich versammelten sich an diesem Samstagnachmittag über 1’200 Menschen auf dem Neumarktplatz. Jung und alt, Familien und Einzelpersonen, SchülerInnen und RentnerInnen, viele mit Transparenten. Man traf Bekannte, FreundInnen und Leute, von denen man es nie erwartet hätte… Es herrschte eine friedliche, aber entschlossene Stimmung. Wer an diesem Tag durchs Pasquart an den See und zurück mitgeradelt ist, kehrte mit dem Gefühl nach Hause zurück: Gemeinsam sind wir stark. Gemeinsam können wir unsere schöne Stadt vor dem Autobahnmonster retten…

Nur wenige Wochen später der nächste Streich: Eine Gruppe von Aktivistinnen und Aktivisten markierte in einer abendlichen Blitzaktion die 745 Bäume, die dem Westast geopfert werden sollten. Eine Aktion, die einer sorgfältigen Vorbereitung bedurfte: Mit einer Kopie der Autobahnpläne in der Hand, mussten die zu markierenden Bäume vorgängig bestimmt werden. Dann machten sich verschiedene Gruppen an die Kreation von Plakaten und Trauerschleifen, die schliesslich von einer fleissigen Schar von Helferinnen und Helfern an die Bäume geheftet wurden. Nach vollbrachter Tat traf man sich zu Speis und Trank am See – frei nach dem Motto: «Widerstand muss Spass machen!»

Die Reaktionen aus der Bevölkerung waren eindrücklich: Zahlreiche Stimmen zeigten sich entsetzt über die grosse Anzahl stattlicher Bäume, die abgeholzt werden sollten. Emotionen, die den Autobahnplanern nicht in den Kram passten. Nach vier Tagen liessen die Stadtoberen von Biel und Nidau die Markierungen durch ihre PolizeibeamtInnen abräumen. Schnell wurde der Ruf nach einer Wiederholung der Aktion laut. Bereits zwei Wochen später waren die Bäume mit neuen Plakaten markiert…

Damit hatte die Protestbewegung gegen den Westast definitiv Fahrt aufgenommen. Der Ruf nach einer Demo wurde immer lauter, gleichzeitig lancierte eine Gruppe von Leuten eine Petition. Mit Standaktionen und per Internet sammelten zahlreiche Freiwillige über 10’000 Unterschriften. Immer mehr Leute waren nun bereit, ein Zeichen zu setzen. Für die Demo vom 23. September bastelten Eltern mit ihren Kindern Transparente, ausgerüstet mit Pfannendeckeln und Trillerpfeifen zogen schliesslich rund 3000 Demonstrierenden durch die Strassen von Biel.

An der zweiten grossen Demo im November 2018 protestierten sogar 5000 Menschen gemeinsam gegen den Westast und die innerstädtischen Autobahnanschlüsse. Eine Umfrage des Bieler Tagblatts und der Wirtschaftskammer zeigte, dass in der gesamten Region nicht einmal mehr ein Drittel der Befragten das offizielle Autobahnprojekt befürworteten.

Von der Strasse an den Verhandlungstisch

Die Behörden mussten sich schliesslich auch auf die von ihnen lange verweigerte Diskussion über Alternativen einlassen. Zweimal kam es zu Spontandemos, als sie versuchten, einen Vergleich zwischen dem Ausführungsprojekt und dem von einer Planergruppe präsentierten Alternativprojekt «Westast so besser!» unter den Tisch zu kehren. Regierungsrat Neuhaus stellte sich in der Folge vor dem Kongresshaus der Diskussion mit den Demonstrierenden.

Schliesslich verkündete er, das Bewilligungsverfahren für das Ausführungsprojekt bis in den Sommer 2020 zu sistieren, um während dieser Zeit im Rahmen eines Dialogprozesses zwischen der Westastgegnerschaft, den Befürwortern und den Behörden eine «breit abgestützte Lösung» zu suchen.

Das war das (vorläufige) Ende der BürgerInnenbewegung mit all ihren kreativen Aktivitäten – von Postkartengrüssen an die Bundesrätin über Brunnenheizaktionen (der Westast geht baden!) bis zu einmaligen Veranstaltungen wie Museumsfest und Tavolata – Geschichte. Fortan wurde wieder hinter verschlossenen Türen, meist in kleiner Kerngruppen-Runde debattiert. Die grössere Dialoggruppe verabschiedete schliesslich – nach fast zwei Jahren zäher Verhandlungen – eine Liste von Empfehlungen zuhanden der Behördendelegation. Die wichtigste: Das Westastprojekt wird abgeschrieben – die Stadtautobahn ist gebodigt, versenkt.

Möglich gemacht hat dies eine Bewegung, getragen von einer Gruppe engagierter AktivistInnen, die über Jahre mit viel Knochenarbeit, Kreativität und Ausdauer nie aufgegeben haben. Was bleibt ist die Erfahrung, dass es nie zu spät ist, für seine Ziele und Visionen zu kämpfen – und auch aussichtslos erscheinende Engagements von Erfolg gekrönt sein können.

 

 

* Text publiziert in der Vision2035 vom März 2021

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