STIFTUNG FÜR LANDSCHAFTSSCHUTZ SCHWEIZ

 

AUTOBAHNPROJEKT
BLOCKIERT INNOVATION

«Übungsabbruch beim Westast!» fordert die Stiftung Landschaftsschutz Schweiz SL in ihrem Communiqué von Anfang Oktober 2018. SL-Geschäftsleiter Raimund Rodewald* sagt, weshalb er von weiteren Faktenchecks abrät und eine Neuausrichtung der Verkehrsplanung im Berner Seeland fordert.

 

Interview: Gabriela Neuhaus

GN: Nach 40 Jahren Autobahnplanung, mitten im Einspracheverfahren, fordert die Stiftung Landschaftsschutz Schweiz beim A5-Westast in Biel einen kompletten «Übungsabbruch». Weshalb?

Raimund Rodewald: Wir stecken in einer Sackgasse. Der Faktencheck zwischen dem alternativen Projekt und der amtlichen Westastvariante geht von der Prämisse aus, eine 100% Lösung aus Sicht des Autofahrers zu bieten. Das ist eine falsche Fragestellung, deshalb sollte man nicht länger daran festhalten. Unsere Stossrichtung: Die offizielle Westast-Variante ist unbrauchbar: erstens, weil von einem Grossteil der Bevölkerung nicht akzeptiert und zweitens, weil nicht bewilligbar aus Sicht von Natur, Landschaft, Raumplanung und Ortsbild. Die Stiftung Landschaftsschutz hat deshalb Einsprache erhoben, und ich gehe davon aus, dass wir spätestens vor Bundesgericht Recht bekommen werden. Besser ist allerdings, wenn wir uns jetzt schon von diesem monströsen Projekt befreien und den Weg für eine zeitgemässe Verkehrsplanung öffnen. 

GN: Wie waren die Reaktionen auf Ihre Feststellung, es sei «ein offenes Geheimnis, dass in den zuständigen Ämtern des Kantons, des Bundes, aber auch der Stadt Biel es wohl kaum Jemanden gibt, der dem Westast nachtrauern würde»? 

Raimund Rodewald: Vor der Veröffentlichung des Communiqués habe ich mit vielen Leuten gesprochen, auch mit führenden Stellen der kantonalen Verkehrsdirektion und Fachleuten – ich kann hier keine Namen nennen… Aber ich habe niemanden gefunden, der dem Projekt nachtrauern würde. Im Gegenteil: Viele Leute – nicht zuletzt beim Kanton Bern – würden aufatmen. Ich stiess auf sehr viel Goodwill, auch bei Amtspersonen. Keiner hat mir gesagt: «Herr Rodewald, der Westast ist eine gute Lösung.»

Quelle: Komitee Westast so nicht!

GN: Und trotzdem hält der Berner Regierungsrat am Ausführungsprojekt fest?

Raimund Rodewald: Der Kanton ist durch einen früheren Entscheid aus Biel gefangen. 2010 sagte die vom damaligen Bieler Stadtpräsidenten Hans Stöckli geleitete regionale Arbeitsgruppe nach jahrelangen Diskussionen und einem ewigen Hüst und Hott gegenüber dem Kanton: Wir wollen den Westast, und wir wollen die  Anschlüsse mitten in der Stadt Biel. Diese Forderung stellten die Behörden damals klipp und klar. Heute muss man sagen: Das war ein Fehler. Man hat auf das falsche Pferd gesetzt. – Ich habe die Berichte gelesen, auf welche die Arbeitsgruppe Stöckli ihren Entscheid stützte. Unglaublich, wie einseitig monofunktional diese ausgerichtet waren, es ging nur um das Strassenprojekt. Das ist antiquiert und nicht zukunftsfähig. – Deshalb bräuchte es bloss ein Fingerschnippen der Bieler Stadtregierung, um das Ganze abzublasen. Als Argument reicht die Feststellung: Keine Akzeptanz. Über die Köpfe der Bevölkerung hinweg kann man heute keine Autobahn mehr bauen.

Es gibt aber auch weitere Argumente: Die heutige Westast-Planung basiert auf einer Ideologie, die nie hinterfragt wurde. Zudem ging man von offensichtlich falschen Verkehrszahlen aus: Das prognostizierte Verkehrschaos nach Eröffnung des Autobahn-Ostasts im Oktober 2017 ist ausgeblieben. Da ist jetzt die Stadtregierung gefordert. Ich habe Verständnis dafür, wenn sich der Kanton darüber beklagt, die Bieler Behörden wüssten nicht, was sie wollen. Jetzt ist wirklich Zeit für einen Übungsabbruch, statt weitere Faktenchecks einzufordern, die nicht weiterhelfen.

GN: Also kein Verständnis für die zaudernde Haltung der Bieler Stadtregierung, die sich nach wie vor um eine Stellungnahme zum Westast drückt?

Raimund Rodewald: Der Bieler Stadtpräsident Erich Fehr stellt die Partizipation in den Vordergrund und sagt immer, es gebe in Biel keine Autobahn ohne Mitwirkung der Bevölkerung. Wenn man das konsequent weiterdenkt, heisst das nichts anderes als, dass das Westast-Projekt zurückgezogen werden muss, da es nicht partizipativ entstanden ist. Es gibt keinen anderen Weg. Hier wird die politische Schwäche der Stadtregierung offenkundig: Sie müsste klar und deutlich sagen: «Wir brechen die Übung ab.» Der Kanton wartet nur auf dieses Zeichen!

GN: In der Diskussion fällt auf, dass die Begriffe Partizipation oder demokratischer Prozess sehr unterschiedlich interpretiert werden. Wie beurteilen Sie als profunder Kenner solcher Verfahren die Geschichte der A5-Westast-Planung? 

Raimund Rodewald: Das Bundesamt für Strassen ASTRA und die kantonalen Tiefbauämter stellen sich leider auf den Standpunkt: «Wir sind die Strassenbauer – Verkehrsstrategie und ‑planung gehören nicht zu unseren Aufgaben.» Die Verkehrsplanung obliegt der Regionalplanung. Und da stelle ich fest, dass die Regionalplanung Biel-Seeland vielerorts versagt. Gerade auch in Bezug auf die A5 am linken Bielerseeufer. Die Regionalplanung wäre zwar partizipativ ausgerichtet, in diesen Verfahren kann man mitwirken. Aber die Region Biel-Seeland hat es nie geschafft, mit einer gemeinsamen Stimme zu sprechen. Die Stadt Biel interessiert sich bis heute selten dafür, was in Tüscherz, Twann oder Ligerz passiert. Tüscherz ruft seit Jahren nach einem Tunnel – das Dorf ist kaputt. Jetzt erhält Twann eine Umfahrung, in Ligerz kommt endlich der Doppelspurausbau der Eisenbahn. Aber das sind alles punktuelle Projekte. Ein gemeinsames starkes Votum gegenüber Bund und Kanton war in dieser Region erstaunlicherweise nie möglich. Andernorts läuft das anders. – Vielleicht wäre der Übungsabbruch auch eine Chance, sich auf eine gemeinsame Vision für die ganze Region zu einigen…

GN: Wie müsste es denn weiter gehen, nach dem Übungsabbruch?

Raimund Rodewald: Man muss von einem regionalen Ansatz ausgehen und sowohl die Not von Tüscherz wie die Ausdehnung der Quartiere etwa in Bellmund oder Port mit einbeziehen – das hängt alles zusammen. Dieser Ansatz wäre ein echter «Novateur» – in der Schweiz gibt es das noch kaum. Bei der Lösungssuche für die Nordtangente in Basel lief es nicht schlecht. Aber nur, dank massivem Druck der Bevölkerung. Deshalb habe ich auch Hoffnung, dass es in der Region Biel gelingt: Der Widerstand hier ist grossartig! Damit könnte Biel auch ein Zeichen setzen und zeigen, dass es fit ist für eine zukunftsfähige Entwicklung.

GN: Wie könnte ein solcher Prozess aussehen? Wer würde sich daran beteiligen?

Raimund Rodewald: Wie in der Kulturförderung, könnte auch die Verkehrs- und Raumplanung in regionalen Foren geführt werden. Die Bevölkerung ist an einem Punkt, wo sie sich manifestieren möchte. Das zeigen zum Beispiel die unzähligen Variantenvorschläge und Lösungsansätze zum Westastproblem. – Biel ist Teil eines Agglomerationsprogramms, das Mittel für die Finanzierung eines solchen Prozesses zur Verfügung stellen könnte. – Die Stadt Biel wäre gut aufgestellt, sie könnte solche Foren durchführen.

In der Vergangenheit gab es nur beschränkte Mitwirkungsverfahren. So wurde etwa das Regiotram meines Erachtens sehr früh ad acta gelegt. Statt sich der Opposition zu stellen und nach Lösungen zu suchen, hat man es schubladisiert. Gerade solche Projekte sollten aber in einem grösseren Zusammenhang diskutiert und in eine Gesamtvision eingebettet werden. Dies ist im Moment nicht möglich, weil der Westast zu einer Denkblockade geführt hat. Würde man diesen endlich in die Schublade versorgen, könnte man sich wieder öffnen – und dann kämen Vorschläge wie das Regiotram wieder zum Vorschein. – Wir haben genügend innovative Kreise in Biel. Es braucht keinen Westast, auf den man ohnehin noch über 20 Jahre warten müsste, um Lösungen für die aktuellen Verkehrsprobleme zu finden.

GN: Wo sehen Sie den dringendsten Handlungsbedarf?

Raimund Rodewald: Biel hat beim ÖV einen grossen Nachholbedarf. In anderen mittelgrossen Städten wie etwa Sion, Schaffhausen oder Frauenfeld ist der Übergang von Bahn- und Busverkehr viel besser organisiert. In Biel gibt es keinen Busterminal und keine Tangentiallinien, wie man sie etwa in Bern längst eingeführt hat. Da braucht es Überlegungen zur Verbesserung der Durchlässigkeit, das ist viel dringender als der Bau einer weiteren Strasse. – Auch ist man weit davon entfernt, als Velostadt wahrgenommen zu werden. Das hat nur teilweise mit dem Autoverkehr zu tun. – Verkehr gehört zur Stadt. Wir müssen nicht davon träumen, mit einem Autobahnprojektprojekt das städtische Strassennetz von Autos zu befreien, das ist absurd.

Auch ich bin Pendler und erzeuge Verkehr: Wenn ich zwischen 17 und 18 Uhr von Bern nach Biel komme, ist es im Zug voll, auf dem Trottoir, auf der Strasse… Wir müssen mit dem Verkehr leben, aber wir können ihn effizienter gestalten. Mit der E‑Mobilität und den Sharing-Modellen bahnen sich neue Entwicklungen an, von denen wir nicht wissen, wohin sie führen. 

Biel hat – schon wegen seiner geografischen Lage – relativ wenig Transitverkehr. 80% des Verkehrsaufkommens ist Ziel- und Quellverkehr aus der Region. Gerade in diesem Bereich könnten neue Mobilitätsmodelle in den kommenden Jahren grosse Veränderungen bewirken. Mit den zwei aktuell diskutierten Projekten sässen wir dann entweder auf dem 5km langen Alternativtunnel oder auf dem amtlichen Tunnel mit teuren Ausfahrten und Unterhaltskosten, die jährlich Millionen von Franken verschlingen… Ich frage mich, wie unsere Kinder uns beurteilen werden, wenn wir ihnen solche Erbschaften hinterlassen.

GN: Übungsabbruch heisst also in letzter Konsequenz Verzicht auf ein Grossprojekt, das in den letzten 60 Jahren immer wieder neu geplant worden ist?

Raimund Rodewald: Man muss die Situation als Ganzes betrachten, dann kommt man zum Schluss: Viele Einzelmassnahmen ergeben das richtige Menu. Es geht um Stadt- und Lebensqualitäten. Biel hat 2004 den Wakkerpreis erhalten – nicht für seine Autobahnplanung. Sondern explizit für die vielen punktuellen Massnahmen, etwa am Zentralplatz oder an der Bahnhofstrasse, wo man Fussgänger- und Begegnungszonen geschaffen hat. Diese funktionieren bestens. Nun gilt es, diese Qualitäten auch in die Quartiere und die Agglomeration zu tragen.

Mir liegt diese Stadt am Herzen, und ich finde, sie hat zu Unrecht einen schlechten Ruf. Mit dem Bau des Westasts würde man aber genau diesen abwertenden Ruf weiter zementieren. Eine Stadt, die während Jahren zur Baustelle mutiert, wo Dutzende von Häusern für eine Autobahn abgerissen und Hunderte von Bäumen abgeholzt werden, wo Streit und Ohnmacht herrschen, hat schlechte Karten im Standortmarketing. Das darf nicht geschehen. Da hat die Stadtregierung eine Verantwortung – auch wirtschaftlich gesehen! Sie muss für soziale Entspannung und Kohärenz sorgen. Das geht nur ohne Westast! Wer das nicht einsieht und nicht entsprechend handelt, hat es verpasst, die nötige politische Verantwortung für die Stadt zu übernehmen.

 

*Die 1970 gegründete Stiftung Landschaftsschutz Schweiz setzt sich für die Erhaltung, Pflege und Aufwertung der schützenswerten Landschaften in der Schweiz ein. So auch im Seeland: Letztes Jahr kürte sie die «Energieinfrastrukturlandschaft am Aare-Hagneck-Kanal» zur Landschaft des Jahres 2017. In Twann erreichte die SL über Einsprachen  Verbesserungen bei der geplanten Tunnelumfahrung. Die Erfolgsquote der SL-Interventionen ist beachtlich – dies nicht zuletzt dank dem Verhandlungsgeschick ihres Geschäftsleiters. Der Biologe und Ehrendoktor der Jurisprudenz Raimund Rodewald leitet die Geschäftsstelle des SL seit 1992 und hat in dieser Zeit viel bewegt. Seit 2001 lebt der gebürtige Schaffhauser in Biel. 

 

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