INTERVIEW

KLICKS STATT BRICKS

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WINTERTHUR 12.2017 – ZHAW DOZENTEN, Thomas Sauter, Photo by Vanessa Püntene

 

In der Stadt der Zukunft braucht es keine Parkplätze mehr und viel weniger Autos. Möglich wird dies dank selbstfahrender Fahrzeuge. Damit dieser Technologiesprung aber mehr Lebensqualität bringt, braucht es gezielte Massnahmen, sagt Verkehrsplaner Thomas Sauter-Servaes. Der Spezialist für Fragen rund um die Mobilität der Zukunft gründete u.a. das Labor für multimodale Mobilität. Seit 2013 ist er Leiter des Studiengangs Verkehrssysteme an der ZHAW in Winterthur.

Interview: Gabriela Neuhaus

GN: In Biel steht aktuell der Bau des A5-Westasts zur Debatte. Ein Stück Autobahn, mitten durch die Stadt. Kosten: Über zwei Milliarden Franken. Bauzeit: 15–20 Jahre. – Macht ein solches Projekte heute noch Sinn?

Thomas Sauter-Servaes: Die Grundfrage ist: Wie planen wir in der Politik? Man kann, basierend auf dem aktuellen Verkehr, eine Hochrechnung machen und zum Schluss kommen, dass es mehr Kapazitäten braucht. Oder aber man fragt sich, was für eine Mobilität man 2030 oder 2035 haben will – und wie man dieses Ziel erreichen könnte. – Etwa, indem wir statt auf die alte Betonlösung auf «Klicks statt Bricks» setzen.

GN: Was heisst das konkret?

Thomas Sauter-Servaes: Staus sind in erster Linie ein Auslastungsproblem: In der Hauptverkehrszeit sitzen im Durchschnitt in jedem Fahrzeug nur 1,1 Personen. Das könnte sich bald ändern: Wir werden in Zukunft mehr Digitalisierung und mehr Robotertechnik haben. Die Entwicklung geht in Richtung autonome Fahrzeuge, die man effizienter einsetzen kann. Zudem werden wir uns nicht mehr für alles physisch von A nach B bewegen, sondern einen Teil des heutigen Verkehrs virtuell abwickeln.

GN: Das klingt aber noch sehr utopisch. Den Befürwortern der A5-Westastautobahn geht es um die Vollendung des Nationalstrassennetzes, und um die Umsetzung eines über 40 Jahre alten Projekts… 

Thomas Sauter-Servaes: Ich bin mir vollkommen bewusst, dass es für Politiker schwer ist, den Leuten zu erklären: Wir halten den Ball erst einmal flach und warten ab. Wenn man auf die teure Betonlösung verzichtet, nimmt der Verkehrsstau während der nächsten Jahre zunächst sicherlich noch zu. Um zukunftsgerichtet handeln zu können, braucht es deshalb nicht nur weitsichtige Politiker, sondern auch eine Bevölkerung, die bereit ist, mitzudenken. Das ist ein hoher Anspruch, insbesondere, weil ich als Forscher im Verkehrsbereich einen Wissensvorsprung habe, den man nicht 1:1 voraussetzen und nur extrem schwer vermitteln kann. Es gibt auch viele Unwägbarkeiten. Trotzdem bin ich der Meinung, dass wir’s riskieren müssen, weil wir sehr viel gewinnen können.

GN: Was spricht denn, aus der Sicht des Forschers, für den Verzicht auf die Beton-Lösung? 

Thomas Sauter-Servaes:  Die drei grossen Themen im Verkehrsbereich sind heute Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Roboterisierung. Technik ist im Moment der ganz grosse Treiber in der Verkehrsentwicklung.

Viele Verkehrsplaner kommen aus dem Bauingenieurwesen. Da werden Probleme mit Beton gelöst, man schafft Kapazitäten. Das ist teuer, aber in der Vergangenheit hat es funktioniert, bis zum nächsten Kapazitätsengpass. Dass es auch andere Möglichkeiten gibt, und in Zukunft immer mehr, wird dabei hintan gestellt.

Wir müssen uns endlich bewusst werden, was wir uns mit den bisherigen Ansätzen an Lebensqualität verbauen. Dabei wissen wir längst: Was hinten aus den Autos rauskommt, ist kein Blütenstaub, wie mein Kollege Stephan Rammler in seinem neuen Buch «Volk ohne Wagen» so anschaulich demonstriert. – Wir wissen, dass wir wegen der Verkehrsemissionen pro Jahr sehr viele frühzeitig Verstorbene riskieren. Das nehmen wir einfach in Kauf. Wir bauen unsere Städte immer noch nach dem alten LeCorbusier-Prinzip: Hier wird gearbeitet, dort gelebt. Was dazwischen liegt, ist nicht Aufenthaltsraum, sondern Transferraum. Das wird viel zu wenig hinterfragt.

GN: Weil das Auto in der heutigen Gesellschaft einen wichtigen Stellenwert hat…

Thomas Sauter-Servaes: Klar, wenn ich heutzutage mein Leben plane, ist das Auto der Komplexitätsreduzierer Nummer eins.  Nichts macht mein Leben so einfach wie ein Auto. Meine Kollegen in Berlin nennen es die Rennreiselimousine. Ich kann damit weite Fahrten machen und meinen Skisack jederzeit dabei haben. Ich bin flexibel, kann jederzeit in die Berge fahren, noch drei Leute mitnehmen, besser geht es ja gar nicht!

Das ist im Kopf so tief verankert, das kriegt man so schnell nicht raus. Und doch muss es sein: Denken wir an die Klimaziele, oder an die Gesundheitsprobleme. Dabei geht es nicht nur um die Schadstoffe, die wir einatmen, sondern auch darum, dass wir uns zu wenig bewegen. Künftig will man sogar den ÖV von Tür zu Tür bekommen. Das heisst: Ich bewege mich dann tatsächlich nur noch vom Stuhl, auf dem ich sitze, zum nächsten Stuhl, auf den ich mich wieder setze. Das dadurch angesetzte Fett versuche ich dann in einem Fitnessstudio abzutrainieren. Aus meiner Sicht ist das totaler Irrsinn. Aber dahin geht momentan der Trend – dieser Convenience-Megatrend.

GN: Was wäre die Alternative?

Thomas Sauter-Servaes: Bisher haben wir uns viel zu wenig mit der Frage befasst: Was wäre ein alternatives Mobilitätsbild, ein alternatives Stadtbild? Wir lassen uns von Trends und Prognosen treiben, statt dass wir uns fragen: Wo wollen wir hin? Was ist unsere Vision vom Leben 2040? – Davon ausgehend müssten wir uns überlegen: Wie nutzen wir die neuen Technologien, um diese Vision zu erreichen?

GN: Wohin müsste die Reise denn gehen?

Thomas Sauter-Servaes: Meine Vision ist ganz klar: Ja, selbstfahrende Fahrzeuge werden kommen. Und auch eine neue Art von öffentlichem Verkehr – mit Sammeltaxi-Fahrzeugen, die kleiner sind als unsere heutigen Busse, und nach dem Sharing-Prinzip benützt werden. Das kommt bestimmt. Dank der neuen Technologien werden wir für den Verkehr weniger Flächenbedarf haben. Für Lissabon etwa gibt es Berechnungen, die zeigen, dass das heutige Mobilitätsvolumen mit 10% der Autos abgedeckt werden kann: Dank selbstfahrender Fahrzeuge, die geshared werden und nicht mehr in Einzelbesitz sind, kombiniert mit starken ÖV-Achsen. Technisch ist das bald machbar. Zudem braucht es keine Parkplätze mehr, so dass allein in der Innenstadt von Lissabon Flächen in der Grösse von 210 Fussballfeldern frei werden.

Diese frei werdenden Flächen müssen wir nutzen, um die Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum sowie die Bedingungen für den «muskelgetriebenen Verkehr» zu verbessern. Warum können heute zwei Leute im Auto geruhsam nebeneinander sitzen und miteinander reden? Als Fahrradfahrer ist mir das verwehrt. Da geht es keine drei Minuten, bis hinter mir einer hupt, wenn wir zu zweit nebeneinander radeln. Zudem ist es verboten und lebensgefährlich. Obschon man diese Qualität doch gerade in jenem Verkehr anbieten müsste, der viel gesünder ist, der weniger Abgase produziert und zudem noch den Nahraum stärkt. Das ist die Richtung, in die wir uns bewegen müssen.

GN: Selbstfahrende Fahrzeuge führen also dazu, dass es in den Städten automatisch mehr Freiraum für RadfahrerInnen und FussgängerInnen gibt? 

Thomas Sauter-Servaes: Das ist eine einmalige Chance, die wir haben. Aber ohne lenkende Eingriffe geht das nicht. Zunehmende Digitalisierung und Roboterisierung werden dazu führen, dass Mobilität sehr viel billiger wird. Allein schon, weil es mehr Wettbewerb geben wird. Deshalb müssen wir rechtzeitig damit anfangen, den Verkehr mittels Mobility Pricing mindestens auf dem heutigen Preisniveau zu halten, wenn nicht gar zu verteuern. Ansonsten werden wir soviel Mehrverkehr haben, dass wir diese Reduktion auf 10 Prozent nicht erreichen.

GN: Das heisst, man müsste die Mobilität künstlich verteuern?

Thomas Sauter-Servaes: Mein Plädoyer lautet: Verkehr muss genauso viel kosten, wie er Schaden anrichtet. Das Verursacherprinzip funktioniert heute nicht – der Verkehr kommt für die Kosten, die er im Gesundheits- und Umweltbereich verursacht, nicht auf. Zudem muss die Finanzierung für den Unterhalt der Verkehrsinfrastruktur neu organisiert werden: Benzin und Diesel sind Auslaufmodelle. Das heisst, künftig können wir die Strasseninfrastruktur nicht mehr über die Mineralölsteuer finanzieren. Deshalb brauchen wir ein Mobility Pricing mit smarten Mechanismen.

GN: Den Verkehr verteuern heisst aber, dass man der Mobilität Schranken setzt. Ist ein derartiger Eingriff sozial und wirtschaftlich vertretbar?

Thomas Sauter-Servaes: Heute heisst es: Mobilität gleich Verkehr. Mobilität heisst aber nur, dass ich einen bestimmten Möglichkeitsraum habe, Erreichbarkeiten. Aber muss ich das in Zukunft alles physisch machen? Muss ich mich dafür tatsächlich bewegen, und wenn ja, wie weit muss ich mich bewegen? Ist es unser Ziel, dass wir alle in Zukunft in irgendwelchen riesigen Shopping Zentren einkaufen, für die wir kilometerweit fahren müssen? Oder stärken wir eher die Nahkultur? Heute kaufen alle bei Amazon, Zalando etc. ein. Soll so etwas weiter forciert werden? Ist das der Weg – oder nicht? Darüber muss man sich klar werden. Im Moment sieht man diese ganzen Trends als gottgegeben. Das sind sie aber nicht.

GN: Trotzdem heisst es bei den Promotoren des A5-Westasts auch immer wieder, für die wirtschaftliche Entwicklung der Region brauche es entsprechende Strassenkapazitäten…

Thomas Sauter-Servaes: Noch einmal: Wir haben prinzipiell kein Kapazitäts- sondern ein Auslastungsproblem. Alles, was da draussen rumfährt an leeren LKWs, an halbleeren Autos – da verschwenden wir extrem viele Ressourcen. Ein Auto steht 95% der Zeit herum. Auch die Wirtschaft muss zusehen, dass sie in Zukunft ihre Prozesse effizienter abwickelt. Dort ist man allerdings bereits einen Schritt weiter als der private Individualverkehr – einfach, weil die Kosten ganz anders gerechnet werden, als ich das mit meinem Privatfahrzeug tue. Insofern: Ja, die Wirtschaft hat natürlich ein grosses Interesse daran, dass es Strassenkapazitäten gibt, dass man eine flexible Versorgung bekommt. Doch diese wird in Zukunft sowieso ganz anders aussehen.

GN: Inwiefern?

Thomas Sauter-Servaes: Zum Beispiel durch die 3D-Drucker. In Zukunft werden viele Produkte wieder lokal hergestellt: Statt in China, bestelle ich zum Beispiel meine Turnschuhe im 3D-Druckshop vor Ort. Dadurch müssen nur noch die Rohstoffe transportiert werden, womit man die Transporteinheiten stark bündeln kann. Das heisst, die Produktion, die sich in den letzten Jahrzehnten wegverlagert hat, wird in Zukunft wahrscheinlich wieder vermehrt lokal stattfinden. Das ist eine der grossen Visionen.

GN: Wie könnte man, vor diesem Hintergrund, die 2 Milliarden, die für den A5-Westast reserviert sind, aus Ihrer Sicht zukunftsfähig investieren?

Thomas Sauter-Servaes: 50 Prozent der Automobilfahrten, die in den grösseren Schweizer Städten stattfinden, sind Strecken unter 5 Kilometern. Wenn ich nur schon die Hälfte davon auf andere Verkehrsträger brächte – wenn die Leute zu Fuss unterwegs wären, mit dem Fahrrad, mit einer effizienten Trambahn – würden bereits enorme Kapazitäten frei! Leute, die diese Wege nicht mehr mit dem Auto zurücklegen, werden sich fragen: Brauche ich überhaupt noch ein eigenes Auto? – Ich würde also damit beginnen, den Nahraum zu stärken. Indem ich etwa sinnvolle Velokonzepte erstelle und Aufenthaltsräume schaffe, wo ich mich als Fussgänger oder Velofahrer gerne bewege. Nebst den herkömmlichen Velos gibt es heute eine Reihe von Mikromobilen – E‑Bikes, kleine Tretroller mit Elektroantrieb… In diese Richtung gibt es extrem spannende Neuentwicklungen. Die Leute müssten dazu gebracht werden, die kurzen Strecken sinnvoll zu bewältigen, und ihre Einkäufe im 5‑Kilometer-Radius zu tätigen.

GN: Nun läuft aber die Entwicklung in Sachen Angebot in vielen Städten – auch in Biel – genau in die umgekehrte Richtung: Immer mehr Läden und Dienstleistungsangebote verschwinden aus den Quartieren und der Innenstadt…

Thomas Sauter-Servaes: Wenn man die Aufenthaltsqualität und die Nahraum-Mobilität verbessert, wird es auch wieder attraktiver, dort etwas anzubieten. Deshalb heisst unser Studiengang hier an der ZHAW bewusst Verkehrssysteme: Die Leute müssen lernen, systemisch zu denken. Statt Kapazitätsprobleme weiterhin mit neuen Strassen anzugehen, müssen wir junge Leute in die Verkehrsbranche bringen, die sich überlegen: Wie kann ich die Leute in dieser Stadt, in diesem Quartier dafür begeistern, aufs Fahrrad umzusteigen? Was kann vor Ort dazu beitragen, dass die Leute bereit sind, ihr Verhalten zu verändern?

GN: Gibt es Beispiele dafür? Wie muss man sich einen solchen Prozess vorstellen? 

Thomas Sauter-Servaes: Es gibt verschiedene Ansätze für den Aufbau eines nachhaltigen lokalen Verkehrsmanagements. Zum Beispiel über Sharing-Plattformen, die es ermöglichen, sich in der Nachbarschaft auszutauschen. Heute brauchen wir solche Apps, weil wir unsere Nachbarn nicht mehr kennen. Weiss ich, ob mein Nachbar eine Bohrmaschine hat, die er verleihen würde? Sobald ich solche Informationen habe, kann ich bei meinem Konsum ganz anders reagieren. Das gilt auch für den Verkehr: Braucht jeder im Quartier sein eigenes Auto, wenn 20 Leute bereit sind, ihr Auto zu teilen? Solche Ansätze werden heute immer einfacher, da jeder einen kleinen Riesencomputer in Form eines Smartphones im Hosensack hat…

Die Hightech-Angebote können als initialer Push benutzt werden, um die Nachbarschaft zu stärken. – Im Moment lassen wir uns allerdings zu stark von den Ideen der Technologieunternehmen treiben, die uns alles als möglich verkaufen wollen. Da müssen wir aufpassen: Wir brauchen eine Vision, um zu wissen, wie wir die Technik einsetzen wollen, um unsere Lebensqualität zu steigern. Das ist beim Smartphone nicht anders als beim Tunnelbau: Nur weil eine Lösung technisch machbar ist, heisst das noch lange nicht, dass sie in die richtige Richtung führt…

GN: Sie sind auch Mitglied des Netzwerks «Denkfabrik Mobilität», das sich mit Visionen der neuen Mobilität auseinandersetzt. Was steckt dahinter? 

Thomas Sauter-Servaes: Ich gehöre zu den Gründungsmitgliedern der Denkfabrik. Sie entstand aus der Überzeugung, dass wir nicht so weitermachen können, wie bisher. Deshalb haben wir ein Manifest verfasst und versuchen, künftige Ansätze einer nachhaltigen Mobilität zuerst einmal experimentell durchzudenken.

GN: Wie sieht es aus mit konkreten Projekten? Zum Beispiel einer Diskussion rund um zukunftsfähigen Verkehrslösungen in der Region Biel?

Thomas Sauter-Servaes: Das wäre durchaus möglich. Die Denkfabrik will sowohl über grosse Strategien nachdenken, wie sich auch mit konkreten Problemen und Fragestellungen auseinandersetzen. Wir wollen unsere Ideen in realen Projekten testen. Deshalb sind wir auch immer gerne bereit, als Sparringpartner zu dienen. Die Denkfabrik Mobilität kann – zum Beispiel im Rahmen von Workshops – Rückfragen stellen, Ideen aus anderen Projekten mitbringen und als Kopföffner dienen – raus aus dem alten Denken, neue Horizonte aufzeigen…

© Gabriela Neuhaus, Februar 2018

 

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