«Im Moment würde ich
über keine Tunnel reden»
Der Architekt und Stadtplaner Han van de Wetering hat den Westast-Dialogprozess als «Fachexperte Städtebau» begleitet. Im Gespräch mit der IG Häb Sorg zur Stadt spricht er über die Ergebnisse des Runden Tischs – und die Gefahr, dass diese in der aktuellen Diskussion zu wenig berücksichtigt werden.
Wir hatten uns mit Han van de Wetering Anfang November 2021 an der Rendez-vous Veranstaltung von Espace Biel/Bienne.Nidau spontan getroffen. Er war angereist, um im Auftrag der Projektleitung als Auskunftsperson und Experte die «Partizipationsveranstaltung» zu begleiten. Die aktuellen Entwicklungen in Sachen Post-Westastplanung machen ihm Sorgen, insbesondere ist er enttäuscht über den Rückfall in alte Denk- und Diskussionsmuster: «Im Dialogprozesss haben wir es schliesslich geschafft, dass man nicht immer nur über Strassenvarianten debattierte, sondern dass Städtebau und Verkehr gleichwertig behandelt wurden. Davon ist heute, vor allem in der Medienberichterstattung, nichts mehr zu spüren», bedauerte er im kurzen Austausch zwischen Tür und Angel. Ende 2021 haben wir seine planerischen Überlegungen im Rahmen eines Zoom-Meetings vertieft diskutiert.
Interview: Gabriela Neuhaus
GN: Wie beurteilen Sie, ein Jahr nach dem Abschluss des Dialogprozesses, die Situation?
Han van de Wetering: Die Kontroverse ist nicht gelöst – wir sind noch nicht am Ziel. Fest steht jedoch: Innerhalb des Siedlungsgebiets der Städte Biel und Nidau kann es künftig keinen weiteren Autobahnanschluss geben. Dies hat der Dialogprozess deutlich gemacht. Was gut ist: Man hat sich darauf geeinigt, Städtebau und Verkehr bei der künftigen Entwicklung als Ganzes zu betrachten. Dabei hilft das Zukunftsbild, das aus dem Dialogprozess hervorgegangen ist. Ich habe diese Planungsgrundlage nun noch einmal überarbeitet und ergänzt. Während in der ersten Version die geplante Überbauung Agglolac beispielsweise noch eine wichtige Rolle spielte, fällt dieses Grossprojekt nun weg. Auch der Porttunnel wurde ausgeklammert. Dafür haben wir verschiedene Inputs aus der Bevölkerung aufgenommen, und der Schlachthof als schützenswerter Zeitzeuge ist prominenter aufgeführt. Zudem wurde dafür plädiert, den Betrachtungsperimeter zu erweitern und u.a. das linke Bielerseeufer miteinzubeziehen. Ein wichtiges Thema sind nicht-bauliche Lösungen. Man muss nicht immer alles nur in Beton denken! Mit Massnahmen wie Dosierung, Tempoanpassungen, Parkplatzbewirtschaftung oder auch Raumplanung kann man sehr viel erreichen. Deshalb ist es gut, hat der Dialogprozess die kurz- und mittelfristigen Massnahmen benannt, die zur Problemlösung beitragen.
©HvdWetering
GN: Trotzdem hat man den Eindruck, bei den Behörden stehe nach wie vor die «Schliessung der Netzlücke» im Zentrum und nicht die städtebauliche Gesamtsicht…
Han van de Wetering: Ob beim Rosengartentunnel in Zürich oder beim Westast in Biel – überall macht man die gleichen Fehler: Irgendwann liegt der Plan für ein Umfahrungs- oder Anschlussbauwerk vor, ohne dass vorgängig die Frage gestellt wurde, was eigentlich das Gesamtziel sein soll.
Im Städtebau gibt es für jedes grössere Projekt zuerst einmal Studienaufträge, einen Wettbewerb und einen langen Prozess der Mitwirkung. Auch bei der Planung von Verkehrsinfrastruktur bräuchte es ein solches Verfahren, weil es sich hierbei ebenfalls um raumwirksame Projekte handelt, die prägend sind für eine Stadt. Wir brauchen dringend eine andere Planungskultur, – dass man heute fixfertige Pläne vorlegt, ohne vorgängig grundsätzliche Fragen gestellt zu haben, ist absurd.
GN: Wie kommt es dazu?
Han van de Wetering: Der Stau während den Stosszeiten dominiert die ganze Diskussion. Obschon Stau nur ein Kriterium ist, steht er bei Verkehrsprojekten immer im Vordergrund. Wenn Verkehrsingenieure Variantenstudien erstellen, ist die Leistungsfähigkeit der Strasse stets das Hauptkriterium. Dabei gibt es andere Aspekte, die genauso berücksichtigt werden müssen: Fussgänger:innen, welche die Strasse nicht queren können, Lärm, Schadstoffe… Hier bietet sich der Städtebau als Teil des Lösungsprozesses an: Der Verkehr kann auch durch Siedlungsentwicklung beeinflusst werden. Etwa indem man verdichtet, Zentren schafft… Durch ein integrales Herangehen an die Probleme vergrössert man die Spielräume, damit wird es einfacher, Lösungen zu finden.
GN: Wieso ist eine integrale Sicht auf die Siedlungs- und Mobilitätsentwicklung so schwierig und keine Selbstverständlichkeit?
Han van de Wetering: Es gibt in der Schweiz keine Abstimmung zwischen Siedlung und Verkehr. Das beginnt schon in der Ausbildung: Einzig die Hochschule Rapperswil kennt einen Studiengang «Stadt‑, Verkehrs- und Raumplanung» – aber an der ETH gibt es dieses Zusammenspiel nicht, in der Lehre wird das viel zu wenig behandelt. Vielleicht fehlt auch der Mut, über die gängigen Normen hinaus zu denken, gewisse Dinge infrage zu stellen. Wer unbedingt bauen will, stellt das gängige Programm nicht infrage…
GN: Keine gute Voraussetzung für ganzheitliche, nachhaltige Planungen und Entwicklungen…
Han van de Wetering: Früher konnte man einfach auf der grünen Wiese bauen. Jene Bauern, deren Grundstücke es traf, hatten einfach Pech – oder Glück, wenn er das Grundstück teuer verkaufen konnte. Heute müssen wir nicht nur im Städtebau stark verdichten, die Aufgabenstellungen haben sich auch für Verkehrsprojekte stark verändert. Bislang ist diese Message aber weder bei den Raumplanern noch bei den Verkehrsingenieuren wirklich angekommen.
In Biel hat man schmerzlich erfahren, wohin das führen kann: Nach 40 Jahren Planung muss man nun wieder bei Null anfangen. Ich benutze dieses Beispiel gerne, um zu zeigen, dass es so nicht geht. Trotzdem wird heute mehrheitlich immer noch so geplant, obschon es auch innovative Ansätze gibt, wie etwa in Bern Ost, wo die Stadt und das Astra zusammenarbeiten. Das ist neu – und schwierig: Es gibt nicht viele Fachkräfte, die bereit und in der Lage sind, solche integralen Planungsprojekte anzupacken. Als Städtebauer heisst das für mich, dass ich mit Verkehrsingenieuren reden muss – und umgekehrt. Alle Player müssen ins Boot geholt werden, das ist kompliziert. Viele wollen das nicht, weil es aufwändig ist und zu anderen Entscheidungen führt.
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GN: Wie haben Sie den Umgang von Verwaltung und Behörden mit der neuen Situation in der Region Biel erlebt?
Han van de Wetering: Für die meisten Planer:innen in der Verwaltung war der Westast ein Fixpunkt und gesetzt. Dessen Wegfall stellt sie jetzt vor organisatorische Herausforderungen. Der ganze Planungsperimeter muss neu angeschaut werden, das braucht Ressourcen, man muss sich neu aufstellen. Gleichzeitig wird es aber auch einfacher: Ohne Westast gibt es weniger Abhängigkeiten, man kann wieder frei denken. Das bietet Chancen.
Gut ist, dass wir mit Espace Biel/Bienne.Nidau eine Organisation aufgegleist haben, welche die Entwicklung steuert. Aber es geht langsam – eine zentrale Erkenntnis nach einem Jahr Post-Dialogprozess ist für mich – das ist aber kein Vorwurf – dass alles sehr viel Zeit braucht. Weil es für jeden Schritt wieder neue Budgets braucht und verschiedene Hierarchiestufen involviert sind…
Und dann gilt es, die neuen Ansätze umzusetzen: So hiess es zuerst, für die Umsetzung der Empfehlungen entlang der zentralen Achse Neuenburgstrasse-Brüggmoos brauche es ein Verkehrskonzept. Schliesslich konnten wir durchsetzen, dass es auch städtebauliche Leitlinien braucht sowie eine entsprechende Finanzierung für die Entwicklung. Dafür benötigt man von allen beteiligten Gemeinden wieder eine Genehmigung durch den Gemeinderat, das braucht Zeit. Neuerdings steht die Idee im Raum, dass es ein mehrstufiges Konkurrenzverfahren für die Gestaltung dieses Raums braucht und das Konzept Resultat eines zweistufigen Verfahrens sein soll – das heisst, neben dem Verkehr erhält der Städtebau Gewicht…
GN: … schaut man sich die Stossrichtung der von Espace Biel/Bienne.Nidau gesetzten Schwerpunkte an, spürt man allerdings nicht viel von diesen neuen, ganzheitlichen Planungsansätzen. Nebst einem «verkehrlichen Betriebs- und Gestaltungskonzept für die Achse Brüggmoos–Guido-Müller-Platz–Neuenburgstrasse werden da vor allem der Port- und der Juratunnel gepusht…
Han van de Wetering: In der Tat absorbieren die Tunneldiskussionen viele Ressourcen. Damit ist man sehr schnell wieder auf der Linie konkreter Projekte, was nicht zielführend ist.
Sowohl am linken wie am rechten Bielerseeufer muss man sich zunächst grundsätzlich überlegen, was man will – und was für Möglichkeiten es gibt. Den Porttunnel finde ich äusserst problematisch. Den muss man noch einmal infrage stellen, da braucht es Alternativen!
GN: Wie könnten diese aussehen?
Han van de Wetering: In der Mitwirkung wurde immer wieder der Ausbau der BTI-Bahn zu einem Regiotram gefordert. Auch da muss man sich fragen, ob dies die beste Lösung ist und welche Linienführung die richtige wäre. Heute quert der motorisierte Privatverkehr das Stedtli Nidau, während der ÖV daran vorbeifährt. Vielleicht könnte man das ja umgekehrt lösen? Und so den Guido-Müller-Platz entlasten. Für mich wäre das ein Ansatz, den zu testen sich lohnen würde. Solche Ideen kommen aber erst, wenn man den Betrachtungshorizont erweitert.
©HvdWetering
Das Grundproblem ist die Hypokrisie des Ganzen: Niemand will Verkehr, aber alle wollen Auto fahren und gut erreichbar sein. Das führt dann zu Projekten wie dem Porttunnel, der das Problem jedoch bloss verschiebt, aber nicht löst. Deshalb ist das Zukunftsbild so wichtig: Damit man sich zuerst klarmacht, was man will. Und schliesslich stellt sich die Frage nach dem Kosten-Nutzen-Verhältnis: Wenn der Porttunnel-Ausgang Ende Ipsach gebaut wird, fahren einfach zuwenige durch den Berg…
GN: Gilt das auch für einen Juratunnel am Nordufer vom Bözingenmoos nach La Neuveville?
Han van de Wetering: Die Option eines Tunnels als langfristige Massnahme ist Teil der Westast-Empfehlungen aus dem Dialogprozess, aber nicht mit Priorität. Ich würde aber zum jetzigen Zeitpunkt weder über einen Juratunnel noch über eine sonstige Tunnelvariante sprechen. Jetzt geht es erst einmal darum, den Verkehr auf dem künftigen Boulevard zwischen dem Brüggmoos und der Neuenburgstrasse verträglich zu gestalten. Erst wenn dies nicht mehr möglich sein sollte, käme ein Tunnel als langfristige Variante in Betracht.
Aber auch hier würde ich dringend empfehlen, in einem ersten Schritt ein Zukunftsbild für den Perimeter La Neuveville-Biel zu erstellen. So gibt es zum Beispiel den Wunsch nach einer durchgehenden, sicheren Veloverbindung dem See entlang. Etwas, was zwischen Biel und Tüscherz fehlt…. Wenn es immer nur um die Machbarkeit eines Juratunnels geht, kommen solche Themen nie zur Sprache!
© IG Häb Sorg zur Stadt 2022