Knoflacher

 

«DIESE MASSNAHME
IST EINE OHRFEIGE»

 

Der renommierte Verkehrsexperte Hermann Knoflacher, Professor an der Technischen Universität Wien, hat das Bieler Westast-Projekt unter die Lupe genommen. Der profunde Kenner der Verkehrssituation in der Schweiz ist entsetzt. Im Exklusiv-Gespräch von Ende April 2017 redet er Klartext.

Interview: Gabriela Neuhaus

 

GN: Was sagt der unabhängige Verkehrsexperte zur geplanten «A5 Westumfahrung Biel»? 

Hermann Knoflacher: Ich habe das Projekt angeschaut und mich gewundert… Dass im 21. Jahrhundert in der Schweiz so etwas geplant wird, ist unglaublich: Solche Projekte waren in den 1960er Jahren üblich. An den Leuten, die diese Strasse entworfen haben, ist die Entwicklung des Verkehrswesens und der Verkehrsorganisation offensichtlich spurlos vorbeigegangen.

Typisch für diese Art von Projektbeschrieb ist, dass hier ausschliesslich aus der Lenkradperspektive gedacht und gehandelt wird. Nicht aber aus der Perspektive von Menschen, die eine lebenswerte Zukunft in der Stadt haben wollen. Eine Stadt, wie sie in der europäischen Union längst propagiert wird, nämlich die autofreie Stadt.

Das Projekt folgt einem falschen Systemverständnis. Die Eigendynamik des Autoverkehrs bestimmt das Handeln der Techniker und nicht die Techniker die Eigendynamik. Offensichtlich hat man in diesem Fall auf qualifizierte Fachleute verzichtet, um diese Art von Verkehrsproblemen zu lösen. Obwohl es in der Schweiz durchaus renommierte Fachleute und gut gelöste Beispiele gibt.

GN: An welche Beispiele denken Sie, wenn Sie von guten Lösungen in der Schweiz sprechen? 

Hermann Knoflacher: Es gibt eine ganze Reihe… Zum Beispiel in Wabern, bei Bern. Vielleicht kennen Sie es?

GN: Ja, durchaus… 

Hermann Knoflacher: Dann wissen Sie, dass mehr als 24’000 Fahrzeuge durch Wabern fahren, bzw. fuhren. Gleichzeitig fährt da auch die Strassenbahn. Das Problem war, dass diese durch die Staus immer behindert wurde. Mein Kollege Fritz Kobi, der damals der zuständige Verkehrsingenieur war, hat dem Autoverkehr deshalb Fläche weggenommen und die Streckenführung an der Endhaltestelle so organisiert, dass sich jedesmal, wenn die Strassenbahn wendet, ein Pfropfen bildet. Weil er sich gesagt hat: ‚Ich muss für die Bürger eine Verkehrslösung finden, nicht für die Autofahrer.’

Heute hat es in Wabern einen Mittelstreifen, so dass die Fussgänger die Strasse überqueren können. Er hat Radwege hineingelegt, und der Autoverkehr muss brav hinter der Strassenbahn herfahren. Kobi erzeugte so gezielt einen Stau, damit die Strassenbahn keine Verspätungen mehr hat. Mein Kollege Heinrich Brändli von der ETH hat in einer Untersuchung gezeigt, wie wirksam diese Massnahme ist.

Es gibt durchaus gute Beispiele in der Schweiz, keine Frage. Das gesamte internationale Konzept Transitverkehr durch die Alpen, ist zwar ein etwas durchwachsenes, aber ebenfalls dank der Alpeninitiative noch ein gutes Beispiel…

GN: Die Projektverantwortlichen in Biel sagen, die A5 Westast-Autobahn brauche es, um die Stadtquartiere vom Verkehr zu entlasten…

Hermann Knoflacher: Das ist absoluter Unsinn: Verkehrsentlastung können Sie nie durch ein zusätzliches Angebot von Fahrbahnen erzielen. Da die bereits vorhandenen Fahrbahnen ja weiterhin bestehen bleiben, bleibt der einzige logische Schluss, dass die Stadt durch Mehrverkehr zusätzlich belastet wird. Und nicht entlastet!

Eine Stadt kann man nur vom Verkehr entlasten, indem man dem Verkehr, den man reduzieren will, Widerstände entgegensetzt: Verkehrsberuhigung, Verkehrsorganisation – nur so geht es.

GN: Die Behörden – allen voran der Bieler Stadtpräsident – operieren stets mit dem Bild, Verkehr sei wie Wasser: Man müsse ihn auf der Umfahrungsautobahn kanalisieren, damit die Quartiere nicht mehr überschwemmt würden. Was sagen Sie zu diesem Bild? 

Hermann Knoflacher: So wie man denkt, so handelt man… Wassermoleküle haben ja weder eine eigene Vernunft noch Verantwortung oder Empathie. Im Gegensatz zu den Verkehrsteilnehmern. Menschen reagieren intelligent und eigennützig auf ihre Umwelt: Wenn man ihnen mehr Fahrbahnen anbietet, fahren sie mehr Auto. Sie können aber auch auf Autofahrten verzichten, wenn diese kein Vergnügen mehr bereiten, benutzen andere Verkehrsmittel, nutzen das Auto gemeinsam oder suchen sich andere Ziele.

Das Projekt ist absolut gegen alles, was heute national und international vorgeschrieben wird. Auch die Schweiz ist verpflichtet, ihren CO2-Ausstoss zu reduzieren. Diese Massnahme ist eine Ohrfeige für die ganzen CO2-Bemühungen.

Fachlich ist das Projekt aus meiner Sicht überhaupt nicht zu verantworten. Würde mir ein Student bei dieser Fragestellung ein solches Projekt vorlegen, würde er die Prüfung nicht bestehen.

GN: Was raten Sie den Verkehrsplanern angesichts der vorliegenden Situation in der Region Biel? 

Hermann Knoflacher: Voraussetzung für die Entwicklung einer Lösung ist, dass man A) die Wirkungsmechanismen des Verkehrs versteht und man sich B) klare Ziele setzt. Ziel kann aber nicht sein, dass man dem Autoverkehr alle Barrieren aus dem Weg räumt im Sinn von: Wenn er hier nicht gut fahren kann, muss er anderswo fahren – und die Bevölkerung hat sich dem unterzuordnen.

Zudem gibt es übergeordnete Ziele. Dazu gehören die Umwelt sowie die Gesundheit und die Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger. Dem ist der Verkehr unterzuordnen. Verkehr ist ein Mittel zum Zweck, aber kein Selbstzweck. Das Problem der Schweiz sind nicht zu wenige, sondern zu viele Fahrbahnen. Weil es in der Schweiz zu viele Fahrbahnen gibt, wird permanent immer mehr Stau erzeugt.

GN: Die Befürworter der Westast-Autobahn argumentieren, dass es die Westast-Autobahn braucht, damit sich der Verkehr in Biel nicht mehr staut. Gerade dadurch werde die Umwelt entlastet. 

Hermann Knoflacher: Das ist völliger Unsinn. Stau ist eine Therapie. In Wien wird seit 40 Jahren systematisch Stau erzeugt. Das hat dazu geführt, dass der Anteil des öffentlichen Verkehrs von rund 27 Prozent auf heute 40 Prozent angestiegen ist. Das zeigt: Stau ist eine Therapie, die den Menschen hilft, auf andere Verkehrsmittel umzusteigen. Zürich oder Bern machen das genau so. Für qualifizierte Verkehrsplaner ist Stau nicht ein Problem, sondern ein Werkzeug.

Nur unfähige und den Zusammenhängen verständnislos gegenüberstehende Entscheidungsträger und Verkehrsplaner sehen den Stau als Verkehrsproblem. Sie glauben, flüssiger Autoverkehr sei das oberste Ziel, das sie verfolgen müssen. Genau das ist aber falsch: Fussgänger‑, Rad- und öffentlicher Verkehr müssen flüssig sein. Nicht aber der riesige Flächen verbrauchende Autoverkehr! Es ist völlig absurd, dass man annimmt, man könne die Situation verbessern, indem man für den Verkehrs- und Umweltprobleme erzeugenden Autoverkehr bessere Verhältnisse schafft. In Wirklichkeit wird dadurch die Situation bloss verschlechtert.

Ich habe in Fachzeitschriften mehrere Arbeiten zur Schweiz veröffentlicht: Je mehr man die Verkehrsanlagen in der Schweiz ausgebaut hat, desto grösser wurden die Verkehrsprobleme. Wenn Sie ältere Leute fragen, werden sie sagen, dass es vor 50 Jahren viel weniger Stau gab als heute. Damals gab es viel weniger Autobahnen als heute…

GN: In den letzten 50 Jahren hat aber auch die Bevölkerung stark zugenommen, es gibt mehr Bedarf nach Mobilität und Transport… Die Westast-Befürworter argumentieren, dass die Region Biel ohne dieses letzte Autobahn-Teilstück wirtschaftlich den Anschluss verpasse… 

Hermann Knoflacher: Verkehr ist ein Kostenfaktor. Stellen Sie sich einen Betrieb vor, der glaubt, wirtschaftlicher zu arbeiten, wenn er die Produktionswege verteuert und verlängert… Jeder Betrieb wird versuchen, seine Strukturen so aufzustellen, dass der Verkehrsaufwand minimal ist. Und das Gleiche gilt natürlich auch für ein Land.

Auch in der Schweiz sind schwere Fehler in der Raumplanung passiert; die Folgen dieser Fehler widerspiegeln sich im Verkehrsaufwand. Es gibt eine alte Regel, die heisst: Steht etwas verkehrt, entsteht Verkehr. Man kann das nur korrigieren, indem man diese Art von Verkehr reduziert. Reduzieren kann ich aber nur, indem ich Fläche wegnehme. Sie dürfen nicht vergessen: Jedes Auto verbraucht das Zigfache an Fläche eines Fussgängers, Radfahrers und Benutzer des öffentlichen Verkehrs.

Ich nehme an, dass auch die Verfassung in der Schweiz vorschreibt, dass Sie öffentliche Mittel sparsam, zweckbezogen und effizient einsetzen müssen. Investitionen in Auto-Fahrbahnen ist da der absolut falsche Weg.

GN: Ein weiterer Punkt ist der Schwerverkehr: Die LKWs wurden immer grösser. Heute zwängen sich 40-Tönner durch die Altstadt von Nidau und um den Kreisel in der Bieler Seevorstadt. Was kann man dagegen unternehmen? 

Hermann Knoflacher: Da gibt es nur eins: Ein Durchfahrtsverbot, ausgenommen der lokale Zielverkehr. Wir haben eine ähnliche Situation mit den Mautflüchtlingen. Strassen, wo Mautflucht existiert oder droht, werden bei uns von den Bezirken mit einem Verbot für den LKW-Durchgangsverkehr gesperrt. Das wird relativ gut kontrolliert. Die Fahrer lernen ja sehr schnell, sie sind mit ihren Handys gut vernetzt… Das heisst: Es braucht Kontrollen. Anders geht es nicht.

Jeder lebendige Organismus kann nur existieren, solange bei ihm die Kontrollen funktionieren. Die Behörden schauen natürlich ganz gerne weg und quälen die Bevölkerung, damit sie ihren Projekten zustimmt. Das ist eine bekannte Taktik der Strassenbauer: Statt dass sie selber lernen, versuchen sie, der Bevölkerung ihre Prinzipien aufzudrücken. Man darf nicht vergessen, da ist ein Riesenapparat an antiquiert ausgebildeten Beamten, an Lobbys von Banken, von Strassenbaukonzernen, einer ganzen Autoindustrie, der Erdölindustrie etc. Und an den Universitäten wird vielfach immer noch falsch ausgebildet.

Das ist im Wesentlichen die Mannschaft, die hier angetreten ist um das zu machen, was sie in den letzten 50 Jahren gemacht hat – und von dem wir seit 30 Jahren wissen, dass es falsch ist.

GN: Sie würden also das Argument nicht gelten lassen, dass die freie Fahrt von LKWs auf einer Nationalstrasse – also einer wichtigen Verkehrsachse – nicht behindert werden dürfe? 

Hermann Knoflacher: Nein. Sie führen ja in der Schweiz den Beweis mit dem Nachtfahrverbot – oder? Zumindest nach österreichischer Strassenverkehrsordnung hat die Behörde Beschränkungen nach dem § 43 der Straßenverkehrsordnung zu erlassen, ‹wenn die Lage, Widmung oder Beschaffenheit eines an der Straße gelegenen Gebäudes oder Gebietes oder wenn und insoweit es die Sicherheit eines Gebäudes oder Gebietes und/oder der Personen, die sich dort aufhalten, erfordert.›

Dies gilt nicht nur für die direkte Gefährdung im Verkehr, sondern auch für die Gefährdung der benachbarten Bevölkerung. Es handelt sich hier um eine Muss-Bestimmung. Ihre Aufgabe ist ja primär, für die Gesundheit und Sicherheit der Bevölkerung zu sorgen…

GN: In der Schweiz steht dem der Widerstand einer starken Autolobby entgegen. 

Hermann Knoflacher: Es ist vermutlich nicht nur die Autolobby, die es überall gibt… Das Problem in der Schweiz ist: Sie haben zu viel Geld! Für den Strassenbau steht zu viel Geld zur Verfügung. – Ich habe schon vor über 20 Jahren mit dem damaligen Strassenbauchef darüber diskutiert, was man mit dem überschüssigen Geld aus der Treibstoffzoll-Abgabe machen könnte…

Meiner Ansicht nach wäre jede andere Investition dieser Geldsummen für die Schweizer und die Bieler wesentlich sinnvoller, als ihre Heimat und ihre Stadt zu zerstören.

GN: In Biel will man die hausgemachten Verkehrsprobleme mit einer Nationalstrasse lösen, weil so nicht nur die Steuerzahler der Region zur Kasse gebeten werden, sondern die ganze Schweiz mitzahlen muss… 

Hermann Knoflacher: Dieses Finanzierungsprinzip stammt aus einer Zeit, als diese ganze Infrastruktur noch nicht vorhanden war. Heute haben Sie zu viel Infrastruktur und es wäre höchste Zeit, dass auch die Finanzierungsstruktur an die Erfordernisse der Zukunft angepasst wird!

GN: Man hat den Eindruck, insbesondere die Politiker verbeissen sich nachgerade in die alten Normen und wollen das auf einem Beschluss aus den 1960er Jahren basierende Projekt um jeden Preis durchziehen. Ihr Argument: Man habe jetzt 40 Jahre lang geplant, nun müsse das Resultat umgesetzt werden. Ein für Sie bekanntes Phänomen?

Hermann Knoflacher: Ein sehr bekanntes Phänomen mit einem fundamentalen Fehler. Der fundamentale Fehler liegt in der Begründung ‚jetzt haben wir schon 40 Jahre lang geplant…’. Das bedeutet, dass sie 40 Jahre lang nichts gelernt haben und keine Alternativen entwickeln konnten. Es wäre klüger, sie hätten 40 Jahre lang gelernt, statt 40 Jahre lang ein falsches Projekt zu planen. Biel täte mir leid, müsste es mit diesem Projekt in die Zukunft, ohne dass sicher ist, dass es nicht bessere Lösungen gibt. Und diese gibt es sicher, auch wenn sie ein Umdenken erfordern.

GN: Es geht dabei nicht nur um das Projekt an und für sich, sondern auch um das Verfahren: Bei einem Nationalstrassenprojekt darf die Bevölkerung nicht mitreden. Die Behörden betreiben ein Versteckspiel. Im besten Fall halten sie sich bedeckt, über die tatsächlichen Auswirkungen des Projekts. Wir verbrachten letzten Samstag Stunden im Gelände, um die gesetzlich geforderten Aussteck-Profile zu finden… 

Hermann Knoflacher: Zunächst ist anzumerken, dass auch Nationalstraßen mit dem Geld der Bürgerinnen und Bürger bezahlt werden. Auch ist das Verbergen ein alter Trick: Man versteckt die ganze Geschichte, bis es zu spät ist – und rollt dann über die ganze Bevölkerung hinweg.

24.4.2017 

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