Als Margrit und Leo Schöbi Horlacher im Frühjahr 1994 in ihr neues Heim einzogen, hatten sie keine Ahnung, dass mitten durch ihr Grundstück eine Autobahn geplant ist.
Gemeinsam mit einem befreundeten Ehepaar waren sie, auf der Suche nach einer familienfreundlichen Bleibe, an der Gurnigelstrasse 50 fündig geworden: Die ehemalige Direktorenvilla mit dem grossen Garten habe sie von Anfang an angezogen, erinnert sich Margrit Schöbi. Obschon der erste Besuch im Haus ziemlich speziell gewesen sein muss: «Man hatte uns gesagt, die alte Frau Dürig sei fünf Jahre zuvor verstorben. Im Haus war es aber, als würde sie im nächsten Moment zur Tür hereinkommen: Im Eingang standen ihre Pantoffeln, die Küchenschränke waren voller Lebensmittel, der Vorratsraum unter der Treppe gut bestückt mit selbstgemachter Konfitüre.»
Jahrelang hatte die Erbengemeinschaft alles so gelassen, wie es zu Lebzeiten des letzten Patrons der Zifferblattfabrik Dürig gewesen war. Als die beiden jungen Familien das Haus mit dem grossen Garten kauften, mussten sie deshalb erst einmal gründlich entrümpeln, roden, renovieren und umbauen.
Heute umranken wilde Reben die Aussenwände der ehemaligen Villa. Im hellen Treppenhaus hängt immer noch ein Bild aus alten Zeiten, das von den Erben zurückgelassen wurde. Die neuen BesitzerInnen haben das altehrwürdige Haus mit viel Gespür heutigen Bedürfnissen angepasst. Margrit und Leo Horlacher bewohnen einen Teil des ersten Stocks sowie das Dachgeschoss, das man vom Wohnzimmer aus über eine schmale Wendeltreppe erklimmt. Die BewohnerInnen der anderen Haushälfte haben in den letzten Jahren immer wieder gewechselt.
1998 sollte dieser Hausteil verkauft werden. Es fehlte nur noch die Unterschrift unter dem Vertrag, als der künftige Besitzer – ein Journalist – herausfand, dass die Linienführung der geplanten A5-Westast-Autobahn das Grundstück tangieren würde. Ein Schock, auch für Horlachers: Davon hörten sie zum ersten Mal!
Angesichts solch unerfreulicher Aussichten trat der Käufer sofort vom Vertrag zurück, andere Interessenten waren natürlich nicht zu finden. Schliesslich nutzte der Kanton Bern die günstige Gelegenheit und erwarb die Hälfte der Liegenschaft an der Gurnigelstrasse 50 zum Schnäppchenpreis. Seither sind der Kanton und die Familie Schöbi Horlacher gemeinsam Miteigentümer. Die eine Partei hat ihren Hausanteil gekauft, um hier zu leben – für die andere ist es die Sicherung von Land für die künftige Autobahn.
«Ich habe dann einen Plan gefunden, da war ein Halbanschluss Bernstrasse und unter unserem Grundstück ein Tunnel», sagt Leo Horlacher und gräbt in seinen Unterlagen nach dem Dokument. «Beruhigt kam ich zum Schluss: Das betrifft uns nicht wirklich. Die Strasse führt unter unserem Grundstück hindurch, schlimmstenfalls müssen wir unser Gartenhäuschen hergeben.»
Bald wurden sie aber eines Besseren belehrt: Dieser Tunnel, habe ein Nachbar gesagt, werde im Tagbau erstellt… Mit anderen Worten: Das altehrwürdige Haus wird der Autobahn-Baustelle weichen müssen. Fast zwanzig Jahre und zahlreiche Westast-Varianten später hat sich an dieser Aussicht nichts geändert. «Seit 18 Jahren leben wir mit diesem Damoklesschwert», resümiert Leo Horlacher. Manchmal grenze das schon an Folter… Margrit Schöbi will das nicht gelten lassen: Sie ertrage die Situation mit einer gewissen Gelassenheit und sage sich immer wieder: «Geniesse, solange du’s kannst! – Einmal musst du hier weg, so oder so.»
Trotz der schier aussichtslosen Lage hat sich insbesondere Leo Horlacher immer wieder in zahlreichen Gremien dafür eingesetzt, dass man für den Westast eine bessere, angepasstere Lösung findet. Er hat sich politisch engagiert, in der Begleitgruppe mitgearbeitet, Quartierorganisationen mitgegründet… «Vergeblich, das hat die Behörden nicht interessiert», fasst Leo Horlacher bitter zusammen. Und Margrit Schöbi bestätigt: «Oft bist du sehr frustriert nach Hause gekommen.» Trotzdem: Bis heute haben sie nicht aufgegeben, hoffen immer noch, dass das Monsterbauwerk verhindert werden kann.
Gleichzeitig macht sich aber auch Resignation breit: Obschon sie eigentlich nicht fort wollten, boten sie vor einigen Jahren schliesslich ihren Hausteil ebenfalls dem Kanton zum Kauf an. Um dem steten Bangen ein Ende zu setzen. Bern lehnte jedoch ab: Man kaufe erst, habe es geheissen, wenn das Ausführungsprojekt spruchreif sei. «Unser Hausanteil war somit unverkäuflich. Wir können aber auch nicht ins Haus investieren: Gerne hätten wir zum Beispiel vor ein paar Jahren auf dem Dach Warmwasserkollektoren installiert – aber unser Miteigentümer, der Kanton, würde einer wertvermehrenden Investition niemals zustimmen», sagt Leo Horlacher.
Logisch: Je weniger in die Liegenschaften investiert wird, die dem Autobahnbau weichen müssen, desto kostengünstiger wird der anstehende Landerwerb. Je verlotterter die Häuser sind, desto kleiner dürfte aber nicht nur der Preis, sondern auch der Widerstand der HauseigentümerInnen und der MieterInnen sein. Dies die Taktik der Behörden.
Seit einiger Zeit führt das Tiefbauamt des Kantons Bern nun wieder Kaufverhandlungen. Margrit und Leo Horlacher haben ihren Hausanteil schätzen lassen. Noch sind sie nicht bereit, zu verkaufen. Nicht zuletzt, weil sie ihr Mitspracherecht, die Möglichkeit, als direkt Betroffene gegen die Autobahn Einsprache zu erheben, nicht aus der Hand geben wollen.
Trotzdem sind sie wieder auf der Suche nach einer neuen Bleibe. Es sei schwierig, wenn nicht unmöglich, etwas Vergleichbares zu finden, sagen sie. Aber sie müssen an die Zukunft denken: «Wir werden älter, die Wendeltreppe wird langsam zuviel», sagt Margrit Schöbi. Ursprünglich hatten sie geplant, sich ins Dachgeschoss zurückzuziehen und die untere Wohnung zu vermieten. Dafür müsste man aber umbauen, investieren… Das ginge aber nur, wenn der Westast, so wie er aktuell geplant wird, zur Makulatur erklärt würde. Dafür wollen sie weiter kämpfen. Wenn nicht für sich selber, dann wenigstens für den Erhalt dieses einmaligen Quartiers an der Grenze zwischen Nidau und Biel, für das Weiterbestehen der grünen Oasen, der gewachsene Gemeinschaft rund um den Sandhauskreisel.
Nachtrag:
Ein paar Tage nach unserem Gespräch habe ich von Margrit Schöbi eine Mail erhalten:
«Noch eine Ergänzung zum Interview: Ich hatte gesagt, dass ich unsere Situation des Abwartens gelassen hinnehme und mein Leben in Garten und Haus geniesse, wann immer ich kann. Da fehlte eigentlich der zweite Teil, die andere Seite. Was mich nämlich sehr traurig macht ist, dass nach unserem erzwungenen Wegzug alles zerstört werden soll, diese Oase der Natur und das ästhetisch gute und angenehme Haus, zudem die weiteren Bäume Richtung Fussballplatz. Wenn das Projekt aufs Eis gelegt würde und andere Leute in unser Haus einzögen und den Garten pflegten, wäre das für mich eine riesige Freude.»
© Text: Gabriela Neuhaus © Bilder: Anita Vozza – Herbst 2016