Der Umzug an die Gurnigelstrasse 25 erfolgte nicht ganz freiwillig. Ihr Mann hatte damals eine Stelle in Bern und war tagsüber weg. Als ihre damals 7jährige Tochter ins Schulalter kam, war die Mietwohnung in der Nähe des Weidteile-Schulhauses, wo sie selber seit 21 Jahren unterrichtet, als Übergangslösung gedacht. Von aussen habe ihr das Haus überhaupt nicht gefallen, erinnert sich Stephanie Lewis. Sie fand es hässlich. Eine Adresse, über die das Umfeld die Nase rümpfte. Ein Jahr gaben sie sich, um etwas Besseres zu finden – das war vor 15 Jahren.
Die Tochter ist jetzt 22 Jahre alt und ausgezogen, Stephanie und ihr Mann sind geblieben. Weil er erkrankt ist und ein Umzug lange kein Thema war. Vor allem aber, weil das Haus, seinem wenig einladenden äusseren Erscheinungsbild zum Trotz, im Innern eine angenehme Atmosphäre ausstrahlt. «Von unserer Wohnung sehen wir auf das Schloss Nidau – wenn ich im Bett liege blicke ich in die Krone der Platane vor dem Fenster und habe das Gefühl, ich sei irgendwo in den Ferien», schwärmt die 49jährige Lehrerin.
alle Fotos: © Anita Vozza
Gleich zwei Stadtzentren liegen in Gehdistanz: das schmucke Nidau und das urbanere Biel. Noch näher ist nur der Bahnhof. Ein guter Ort zum Leben: Die Weidteile sind ein eigenes lebendiges Quartier, sagt Stephanie Lewis: «Man kennt sich, schaut aufeinander, aber ohne enge soziale Kontrolle. Ideal.»
Früher gab es gleich vor ihrer Haustür einen Blumenladen, eine Bäckerei, eine Metzgerei – ja, sogar ein Restaurant. In der Zeit, seit sie hier wohnen, sei es mit der Gegend jedoch abwärts gegangen, sagt Stephanie Lewis: Die Stadt lässt das ehemalige Schlachthaus, einst ein stolzes Baudenkmal aus dem 19. Jahrhundert, verkommen. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite an der Ecke Murten- und Aebistrasse gähnt seit Jahren eine Brache. Freude bereitet sie einzig den Skatern, die das Dach der von Unkraut und Gestrüpp überwucherten Tiefgarage für tollkühne Akrobatik nutzen. Die Ruine ist das Resultat eines abrupten Baustopps vor acht Jahren: Die geplante Überbauung liegt näm-lich mitten in der offenen Schneise der künftigen A5-Ausfahrt Bienne Centre.
Ein ganzes Quartier soll hier einer Grossbaustelle weichen. Die alten Häuser mit den lauschigen Gärten müssen Platz machen für ein monströses Strassenprojekt, von dem Stephanie Lewis sagt: «Grauenhaft, ein Gefühl wie in Los Angeles». Sie habe sich die Animation im Internet angeschaut. Das Ganze erinnere sie an die Bildergeschichte «Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder» von Jörg Müller. Das Buch erschien 1973 – damals war sie ein Kind. Aber offenbar sei man seither nicht gescheiter geworden: «Allen ist klar, Biel hat eine schwierige Verkehrssituation. Mit dem Westast wird es aber nicht besser, im Gegenteil: Neue Strassen ziehen den Verkehr an. – Es gibt nur einen Weg: Weniger Auto fahren!»
Was den Westast anbelangt, hat Stephanie Lewis vor allem viele Fragen: «Sind sich Biel und Nidau bewusst, was die Bauphase bedeutet? Was geschieht mit der Generation, die Biel nur als Baustelle erleben wird? Kommt es zu einem kollektiven Burnout? – Es geht ja nicht um einzelne Häuser – diese Baustelle wird ganze Quartiere dominieren: Lastwagen, Lärm und Luftverschmutzung. Die Lebensqualität in Biel und Nidau ist für lange Zeit weg. – Und wenn auf halbem Weg plötzlich das Geld ausgeht? Dann haben wir eine weitere Bauruine, wie an der Murtenstrasse – nur noch viel grösser… Ist das vielleicht ein Vorgeschmack darauf, was uns noch blühen könnte?»
Sie sei mittlerweile soweit, dass sie aus der Gegend wegziehen wolle, wenn der Westast kommt, sagt die gebürtige Burgdorferin, die seit bald 25 Jahren im Seeland lebt. Viele Leute hätten aber keine Wahl, könnten es sich nicht leisten, wegzuziehen. Sie denkt dabei vor allem auch an die Menschen in den Sozialwohnungen entlang der Bernstrasse. Dort soll die Autobahn in Halbtieflage versenkt und eingehaust werden. Ein Fortschritt gegenüber der heutigen Situation, versprechen die Planer. Doch Stephanie Lewis fragt: «Wie hält man die 15–20jährige Bauzeit dort aus? Was geschieht mit den heutigen BewohnerInnen, wenn die versprochenen Grün- und Spielflächen zu einer Verteuerung der Wohnlage führen?»
Noch wohnt Stephanie Lewis gerne an der Gurnigelstrasse, möchte eigentlich weiterhin bleiben. Weil das Quartier immer noch ein intakter, lebendiger Stadtteil ist, trotz jahrelanger Vernachlässigung und Warten auf die Baustelle. Mehr noch: Das ehemalige Schlachthof-Areal mit seinen Zwischennutzungen und die gegenüberliegende Brache verleihen ihm einen Hauch von Berliner Charme.
Wenn sich Stephanie Lewis bei der Hausverwaltung erkundigt, wie lange sie noch bleiben könne, erhält sie keine Antwort. Sie hat jedoch das Gefühl, in letzter Zeit werde im Haus noch zurückhaltender investiert als in der Vergangenheit. Der Blick aus dem Schlafzimmerfenster verändert sich mit den Jahreszeiten. «Einmal sagte ich: Wenn die Platane stirbt, ist es Zeit zu gehen», erinnert sich Stephanie Lewis. Jetzt werde das plötzlich aktuell.
Im Haus gegenüber gab es Mieterwechsel. Die neuen NachbarInnen haben einen befristeten Mietvertrag erhalten, bis 2020.
Text: © Gabriela Neuhaus, Herbst 2016