NACHWUCHS IM BAHNWÄRTERHÜSLI

 

alle Fotos © 2017 Anita Vozza

«Für mich ist es wie ein Traum, dass wir hier wohnen», schwärmt Steffi. Sie hat mich in den Garten des ehemaligen Bahnwärterhäuschens eingeladen. Wir sitzen unter einem weissen Segel, das den Ecktisch neben dem Eingang in angenehmen Schatten taucht. An der Hauswand hängt die Miniatur eines Segantini-Bildes. «Aus dem Brockenhaus, kein echter», lacht Steffi und überlässt den noch keine zwei Monate alten Lior, der eben noch an ihrer Brust nuckelte, seinem Vater. Die beiden Männer des Hauses verschwinden zusammen im üppigen Grün des Gartens, während Steffi erzählt, wie sie dieses kleine Paradies erobert haben.

Seit fünf Jahren hegt und pflegt sie, zusammen mit einem Kollegen, den grossen Garten in der Seevorstadt 1. Den Boden haben sie von der Stadt gepachtet, das Grundstück in hartnäckiger Rodungsarbeit der Wildnis entrissen. Jetzt wachsen hier, im Schutz des Bahndamms, Artischocken, Rüebli, Randen, Auberginen, Tomaten… und viele Blumen. Man spürt: Dieser Garten wird mit viel Gespür und Leidenschaft gepflegt.

«Hier haben wir ein Mikroklima, Bedingungen fast wie im Tessin», erklärt die Gärtnerin. Zwischen Felswand und Bahndamm ist es windgeschützt und immer ein paar Grad wärmer als etwa am See vorne. Das wüssten nicht nur die Pflanzen zu schätzen, sondern auch Vipern, Nattern und Blindschleichen, die ihren Garten bevölkern, gemeinsam mit Eichhörnchen und Igeln. «Dieses wunderbare Biotop würde durch den Westast zerstört», sagt Steffi und fügt im gleichen Atemzug an: «Aber dieser Westast kommt nicht! Ich kann mir nicht vorstellen, dass das kommt!»

Dabei wäre ausgerechnet ihr schmuckes Häuschen schon fast dem Westast geopfert worden. Adrian Baumann, der frühere Besitzer, hatte den Abrissbefehl bereits unterschrieben. Dies, weil der Kanton Bern als neuer Besitzer der Liegenschaft das über hundert Jahre alte ehemalige Bahnwärterhaus möglichst schnell dem Erdboden gleichmachen wollte. Aus Angst vor Besetzern, wie es hiess. Der Kanton selber hatte keine Verwendung für das Haus, ihn interessiert einzig das Grundstück, das mitten auf dem Trassee der geplanten A5-Autobahn liegt. 

Als Steffi und ihr Lebenspartner Kiki im Frühjahr 2016 das Abrissgesuch im Bieler Anzeiger entdeckten, reagierten sie schnell und kreativ: Kurzentschlossen bauten sie ein Modell des Häuschens, das sie, zusammen mit einem Bewerbungsschreiben, per Velokurier an die Adresse des Tiefbauamts in Bern schickten. Diese ungewöhnliche Aktion zeigte Wirkung: Projektleiter Stephan Graf persönlich kümmerte sich um die Anfrage, schon nach kurzem Verhandeln wurde man sich einig: Vorläufig sollte in der Seevorstadt 1 die Abrissbirne nicht zum Einsatz kommen.

Das junge Paar erhielt vom Tiefbauamt des Kantons Bern einen Zwischennutzungsvertrag für das Abbruchobjekt. Dieser ist auf drei Jahre, bis 2019, begrenzt. Falls sich der Baubeginn des Westasts verzögern sollte, kann er aber verlängert werden. Diese Klausel sei ihr wichtig gewesen, sagt Steffi.

Das frisch renovierte und liebevoll eingerichtete Haus ist denn auch alles andere als ein Provisorium. Bevor sie eingezogen sind, haben die Sozialpädagogin und der Event-Techniker während dreier Monate in stundenlanger Arbeit, unterstützt von Familie und Freunden, das alte Haus in ein einladendes Nest verwandelt.

Die Wände haben sie mit heller Farbe frisch gestrichen, Böden neu verlegt, die Ölheizung durch Holzöfen ersetzt, das Badezimmer mit neuen Geräten bestückt. «Der Kanton ist uns sehr entgegen gekommen», betont Steffi. «Während der drei monatigen Renovierungszeit mussten wir keine Miete bezahlen, sie liessen uns freie Hand.»

Das Resultat lässt sich sehen: Wer das Haus durch den Windfang betritt, steht unvermittelt in einer grosszügigen, schön eingerichteten Küche. «Das ist ein Gemeinschaftswerk von mir und meinem Vater», sagt die Hausherrin stolz.

Im gemütlichen Wohnzimmer steht ein grosser Holzofen, in der gegenüber liegenden Ecke ein Schreibtisch mit Computer – Steffis Büro. «Das ehemalige Büro ist jetzt Liors Kinderzimmer», erklärt Steffi. Aktuell sitze sie sowieso nur selten am Schreibtisch. Im Januar hat sie ihr Studium abgeschlossen und hat seither noch keinen neuen Job gesucht. «Ich geniesse sehr, dass ich mir momentan eine Auszeit leisten kann, jetzt wo Lior da ist» sagt sie. Dies sei nicht zuletzt möglich, weil sie eine günstige Miete hätten und einen Garten, dank dem sie weitgehend Selbstversorger seien.

Eine schmale Wendeltreppe führt in den oberen Stock, wo das Kinder- und das Elternschlafzimmer untergebracht sind. Die Fenster gewähren einmalige Ausblicke ins Grüne. Im Anbau aus den 1940er Jahren ist das Badezimmer untergebracht. Mangels Heizung wird es dort im Winter sehr kalt, was vor allem am Morgen ganz schön hart sein könne, schmunzelt Steffi.

Die Züge hingegen, die in nächster Nähe über den Bahndamm brausen, nimmt sie kaum mehr wahr. «Als ich mich um dieses Hüsli bemühen wollte, sagte Kiki: Steffi, du hast einen so leichten Schlaf – das geht doch nicht, mit dem Zug…» Tatsächlich fahre der Zug mitten durchs Schlafzimmer, das Bett wackelt jedes Mal. Trotzdem schlafe sie sehr gut. Und auch die Strasse störe sie nicht, die im Sommer vor lauter Grün vom Haus aus gar nicht zu sehen ist.

«Ich schaue nach rechts, ich schaue nach links und sehe nichts als Grün», schwärmt Steffi. Kein Wunder, dass sie sich stets in den Ferien wähnt. Ursprünglich sei sie als 19jährige – der Liebe wegen – von Luzern nach Biel gezogen. Die Liebe von damals hat nicht überdauert, trotzdem sei sie in Biel geblieben, erzählt Steffi. Seit 14 Jahren lebt sie nun in ihrer Wahlheimat am Jurasüdfuss. Eine Rückkehr nach Luzern kann sie sich nicht vorstellen: «Die Seepromenade, das Multikulti, die französische Ambiance… Luzern ist herausgeputzt und schön – hier hat es Platz für alle. – Biel ist offener, kulanter. Ich zumindest erlebe das so.»

Vorläufig. Käme nämlich der Westast, müsste sie von Biel wegziehen, sinniert Steffi: «15 Jahre lang eine Baustelle, die Stadt vom See abgeschnitten – da sehe ich keine Lebensqualität mehr», fasst sie zusammen. Vielen Leuten sei bis heute nicht bewusst, was mit dem Westast-Projekt auf sie zukommen würde. Ein Projekt, das eigentlich gar nicht nötig wäre. «Ich fahre oft mit dem Velo durch die Seevorstadt und denke: Viele Leute, die hier während der Stosszeiten im Stau stehen, müssten gar nicht mit dem Auto unterwegs sein. In jeder Stadt gibt es Feierabendverkehr, den bringst du nicht weg! Und um halb Sieben ist hier dann alles leer – da könntest du Rollschuhfahren auf der Strasse!»

Der Westast würde auch viel günstigen Wohnraum verschlingen, der wichtig sei für die Stadt, führt Steffi aus. Und fügt nicht ohne Stolz an: «Mit unserer Zwischennutzung hier wehren wir uns ja auch gegen dieses Beton-Projekt. Ohne uns wäre bereits heute eine Brache… Voller Zuversicht, dass es in den nächsten Jahren nicht soweit kommen wird, meint sie abschliessend: «Ich bin überzeugt, dass Lior dereinst hier eingeschult wird.»

Text: © Gabriela Neuhaus, August 2017

 

SEEVORSTADT 1 — EIN GESCHICHTSTRÄCHTIGER ORT

Heute liegt das kleine Haus versteckt im Schutz des Bahndamms. Dem war nicht immer so: Ursprünglich verlief die Bahnstrecke Biel-Neuenburg ebenerdig. Dort wo der Zug die Seevorstadt kreuzte, gab es eine Barriere. Das Häuschen mit der Adresse Seevorstadt 1 wurde 1875 für den Bahnwärter gebaut. Nach Erstellung des Bahndamms diente es SBB-Streckenwärtern als Wohnung. Sie hatten per Treppe einen direkten Zugang auf den Damm. In den 1940er oder 50er Jahren wurde das bescheidene Haus renoviert und erhielt erstmals einen Anbau mit Badezimmer und WC. Als ein Bundesgerichtsentscheid vom Dezember 2003 die SBB dazu verpflichtete, künftig für ihre Liegenschaften Steuern zu bezahlen, beschlossen diese, zahlreiche ihrer Liegenschaften zu verkaufen. Darunter auch das alte Bahnwärterhäuschen in der Bieler Seevorstadt.

Von den über 90 Interessentinnen und Interessenten blieben gerade noch zwei übrig, nachdem das Bieler Tagblatt im Januar 2004 publik gemacht hatte, dass die Liegenschaft Seevorstadt 1 spätestens 2010 der Westast-Autobahn weichen müsse. Bei der Ausschreibung der Liegenschaft hatten die SBB kein Wort über diesen Umstand verloren…

Adrian Baumann war einer der beiden Interessenten, die sich von dieser Perspektive nicht abschrecken liessen. «Der Preis war günstig und das Risiko klein, da wir wussten: Wenn die Autobahn kommt, muss uns der Kanton die Liegenschaft abkaufen», erinnert sich Adrian Baumann, der den Zuschlag schliesslich bekam.

Er interessierte sich sehr für die Geschichte des Häuschens. In den Archiven ist aber kaum etwas zu finden: Bei den SBB gab es nicht einmal Pläne zum Haus, geschweige denn irgendwelche weiteren Informationen. Im Gegensatz zu den stattlichen Gebäuden in der Nachbarschaft, war das Bahnwärterhäuschen stets eine bescheidene Arbeiterunterkunft. Bis heute hinterliess sie deshalb keine Spuren in Geschichts- und anderen Büchern.

Wer weiss, vielleicht kann sich das noch ändern… Immerhin hat das Bahnwärterhäuschen ein stolzes Alter. Voraussichtlich wird es dereinst auch noch seinen 150. Geburtstag feiern können. Denn auch heute noch ist ungewiss, ob und wann die Autobahn kommt.

Adrian Baumann und seine Familie wohnten schliesslich über zwölf Jahre im Paradies hinter dem Bahndamm. Bis das Häuschen zu eng wurde, für die inzwischen vierköpfige Familie. Deshalb machten sie sich auf die Suche nach einer neuen Bleibe – und verkauften das Häuschen im Frühjahr 2016 dem Kanton. Für 160’000 Franken – gleichviel, wie sie einst den SBB für den Erwerb der Liegenschaft bezahlt hatten…

 


 

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