Die Fassade des einst stattlichen Jugendstilhauses ist heruntergekommen. Seit dem letzten Anstrich dürften Jahrzehnte ins Land gegangen sein. Ganz anders im Innern des Wohnhauses an der Badhausstrasse 47. Man spürt sofort: Hier wird nicht nur gehaust, hier wird gelebt und mit viel Liebe fürs Detail gewohnt. Nicole Zribi – bekannt unter ihrem Künstlerinnennamen Djemeia, die Sängerin mit der starken Soulstimme – empfängt mich in ihrer Dreizimmerwohnung im ersten Stock. Vor gut zehn Jahren ist sie hier eingezogen.
«Es war Liebe auf den ersten Blick. Nicht von aussen, aber als ich mir die Zimmer anschaute, wusste ich: Das ist meine Wohnung – ja, unbedingt!»
Die damalige Hausbesitzerin, Beatrice Vogt-Schori, war sehr offen und hatte keine Einwände, als Nicole die Wände nach eigenem Gusto selber streichen wollte. Im Gegenteil: Sie freute sich über die Begeisterung der neuen Mieterin, die ihrerseits auch nach zehn Jahren noch vom tadellosen Zustand der Wohnung schwärmt; Küche und Bad sind hell gekachelt und modern eingerichtet. Der Holzboden richtiges Parkett – nachhaltige Qualität, wie sie heute selten zu finden ist.
Der Charme der Altwohnung kommt bestens zur Geltung: Nicole Zribi ist stolz darauf, dass kein einziges Stück in ihrer mit viel Geschmack eingerichteten Wohnung von Ikea oder Interio kommt. Alles ist handverlesen, einzigartig – und passt. Dominierendes Möbel im Wohnzimmer ist ein blauer Fensterladen. Er macht sich gut, als Deko-Element an die Wand gelehnt. Nicole lacht: «Der ist mir am Brocante in Le Landeron über den Weg gelaufen und war halb gratis. Ich fand ihn so schön, dass er jetzt hier sein Plätzli gefunden hat – vorläufig.»
Vorläufig, weil Nicole gerne immer wieder Neues ausprobiert. Genauso, wie sie immer wieder neue Musikrichtungen ausprobiert und auch in der Kunst ihre eigenen Wege geht: «Man muss seine Stimme kennenlernen und merken, wo sie am besten hinpasst», fasst sie ihr Credo zusammen. Nur beim Wohnen könnte sie auf das «vorläufig» sehr gut verzichten: Nur zu gerne würde sie an der Badhausstrasse bleiben…
«Frau Vogt schaute sehr gut zum Haus. Kurz vor dem Verkauf liess sie sogar meinen Balkon noch reparieren», erinnert sich Nicole. Als das Haus im November 2015 an das Tiefbauamt des Kantons Bern verkauft wurde, sei das ein Riesenschock gewesen.
Obschon es längst Gerüchte gab, dass das Quartier dereinst einer Autobahn weichen müsse. «Ich habe immer gehofft, das komme mal vors Volk», sagt Nicole, die bis heute nicht begreift, weshalb Behörden und Politiker dieses Projekt ohne Rücksicht auf Bevölkerung und Umwelt durchdrücken können. «Ich finde es ziemlich widersprüchlich, dass man ständig von Klimaerwärmung redet und sagt, wir sollten Energie sparen und den öffentlichen Verkehr nutzen… und dann will man eine derartige Mega-Autobahn hinstellen, die meiner Meinung nach völlig überdimensioniert ist – das ist ja völlig jenseits von Gut und Böse!»
Während die Gastgeberin aus dem bunt getupften Krug Tee nachschenkt, spinnt sie ihre Gedanken weiter: «Wenn es mühsame Staus hat, könnte man ja die Leute vielleicht eher dazu animieren, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. – Auf alle Fälle nehmen sie bestimmt nicht vermehrt den Zug, wenn man ihnen eine neue Autobahn gibt!»
Im Moment können Nicole und ihre NachbarInnen noch bleiben. Man hat ihnen versichert, dass das Haus sicher bis 2020 stehen bleibe. Trotzdem schaut sie sich schweren Herzens nach einer neuen Bleibe um. Der Gedanke ans Wegziehen fällt ihr schwer: Die einmalige Lage zwischen Bahnhof und See, das lebendige Quartier, die unkomplizierte Nachbarschaft, der gemeinsam genutzte Garten – all das würde sie vermissen. Ihr kleines Tonstudio, das sie sich in einem Zimmer eingerichtet hat, die Kinderstimmen und Klavierklänge aus dem Nachbarhaus… In einem anonymen Aussenquartier wohnen oder in einem modernen Block, kann sie sich nicht vorstellen. Und weg von Biel, wo sie aufgewachsen ist, von ihrem geliebten See und der hiesigen Kulturszene schon gar nicht.
«Biel hat extrem viele Seiten, viele interessante Leute… Wir haben eine Künstlerszene, die extrem unterbewertet ist. Zum Beispiel im X‑Project mit den Künstlerateliers, den Studios und dem Skaterpark, der in einem Aussenquartier eine neue Bleibe finden soll. Dort wird er aber kaum den gleichen Erfolg haben wie hier, gleich beim Bahnhof… Obschon ich natürlich sehr hoffe, dass die Kids nach der Schule mit ihrem Board den Weg dorthin nicht scheuen. Es wird so viel kritisiert, dass die Jungen sportlich nicht aktiv sind – wenn man ihnen im Zentrum alles wegnimmt, muss man sich nicht wundern, wenn sie nur noch rumhängen…»
Eigentlich sei es unhaltbar, sagt Nicole, dass all dieser Raum für Kreativität der Autobahn weichen müsse. Dazu gehören nicht nur die zahlreichen Künstlerinnen und Künstler aus verschiedensten Sparten, die im Rahmen des X‑Projects, das seit bald 20 Jahren im ehemaligen Swisscom-Gebäude beim Bahnhof untergebracht ist, das Bieler Kulturleben beleben. Direkt betroffen ist auch ihr eigenes kreatives Schaffen.
«Musik ist meine grosse Leidenschaft – ich lebe für die Musik, aber nicht von der Musik», fasst Nicole, alias Djemeia zusammen. Sie arbeitet 60 Prozent in einem Bieler Geschäft, den Rest der Zeit widmet sie der Musik. Das geht, weil sie fürs Wohnen an der Badhausstrasse monatlich nur 900 Franken bezahlt. «Wenn ich wegen dieser blöden Autobahn umziehen und plötzlich 1300 Franken Miete bezahlen muss, geht das nicht mehr», sagt die engagierte Sängerin und fügt mit feinem Lächeln augenzwinkernd an: «Das wäre ein Verlust für die Kunst.»
Text: © Gabriela Neuhaus, Frühjahr 2017