BEGEGNUNGSZONE NIDAU

 

Wenn ein 40-Tönner in Nidau an der Kirche vorbei brettert, hat man das Gefühl, das Städtchen bebt. Während Stosszeiten wälzt sich eine zähe Kolonne durch die Hauptstrasse. Oft kommt es zu Rückstaus. Kein Wunder: Auf der kurzen Strecke von rund 300 Metern werden FussgängerInnen an fünf Stellen mittels Zebrastreifen über die Fahrbahn gelotst, was ein ständiges Stop and Go sowie Lärm und Gestank provoziert. Das könnte sich bald ändern: Breitere Trottoirs, eine schmälere Fahrbahn und Tempo 30 ermöglichen die Schaffung einer sogenannten Begegnungszone, inklusive Aufhebung der Fussgängerstreifen. Dies das neue Konzept für die Ortsdurchfahrt von Nidau. thumbnail of 20170403_Planungsbericht_mit_Anhang_Ein Modell, das sich in Köniz seit 12 Jahren bewährt hat:

Der Ortskern der Berner Vorortsgemeinde, der einst im Verkehr zu ersticken drohte, konnte massiv aufgewertet werden: Die Begegnungszone, in der alle VerkehrsteilnehmerInnen aufeinander Rücksicht nehmen, erlaubt auch an der viel befahrenen Hauptstrasse eine lebendige Nutzung des öffentlichen Raums. Die Situation in Köniz ist mit jener in Nidau durchaus vergleichbar, auch das Verkehrsaufkommen von durchschnittlich 18’000 bis 20’000 Fahrzeugen pro Tag, mit ausgeprägten Stosszeiten. Die Vorteile sind offensichtlich: VerkehrsteilnehmerInnen müssen vermehrt Rücksicht aufeinander nehmen. Das Überqueren der Strasse wird sicherer, die Hauptstrasse ist nicht länger in erster Linie Transitstrecke – sie gehört allen, auch wieder dem Langsamverkehr.

Die breiten Trottoirs laden zum Verweilen ein. Die zahlreichen Restaurants und Cafés entlang der Hauptstrasse in Nidau können im Sommer vermehrt Plätze an der Sonne anbieten. Dank der Temporeduktion und der Verflüssigung des Verkehrs geht der Verkehrslärm zurück – das Stedtli lädt wieder zum Einkaufen, Flanieren, sich Treffen… Ein verführerisches Konzept, zumal es erhebliche Verbesserungen verspricht, ohne dass dafür Milliarden-Investitionen nötig sind. Es braucht dafür keine neuen Strassen, und schon gar keinen Westast. Wer nämlich seine Hoffnungen für eine Verkehrsberuhigung in Nidau auf die Westast-Autobahn setzt, liegt völlig falsch: Laut Verkehrsprognosen des Tiefbauamts bringt diese Luxusautobahn für die Verkehrssituation im Stedtli keine Entlastung. Eher das Gegenteil dürfte der Fall sein, insbesondere wenn all die baulichen Verdichtungen, die in der städtebaulichen Begleitplanung versprochen werden, tatsächlich Wirklichkeit werden.

Die Begegnungszone hingegen ist ein zukunftsfähiges Konzept, das schnell und kostengünstig umsetzbar ist. Zudem hat es sich nicht nur in Köniz bestens bewährt. Auch am Zentralplatz in Biel hat man längst positive Erfahrungen gemacht, mit der gegenseitigen Rücksichtnahme aller VerkehrsteilnehmerInnen.

 

thumbnail of 2017-04-03_BT_Verkehrskonzept_NidauQuelle: Bieler Tagblatt, 3.4.2017

 
 

LEBEN AM UNORT

 

Die Aussicht ist atemberaubend: Der Blick schweift von den Jurahängen über die denkmalgeschützten Hallen der ehemaligen GM-Autofabrik und das Schloss Nidau hinweg bis zum See – und weiter, über die einst prachtvollen, vom bekannten Sutzer Architekten Ludwig Friedrich von Rütte entworfenen und längst umgenutzten Gebäude des Bieler Schlachthofs, ins grüne Mühlefeldquartier.

 Fotos: © Anita Vozza

Ein Rundblick, den Heinz und Rosmarie Lachat auch nach über vierzig Jahren nicht missen möchten. Kein Wunder, beginnt die Besichtigung der liebevoll eingerichteten 3,5‑Zimmerwohnung auf dem Balkon. Allerdings verderben neuerdings hässliche Zukunftsbilder den Panoramagenuss: Mit einer ausladenden Bewegung umschreibt Heinz Lachat die Ausmasse des geplanten Autobahnanschlusses Bienne Centre: Der Kreisel mit einem Durchmesser von 60 Metern und zwei Verbindungsrampen käme direkt vor ihre Haustüre zu liegen. «Das ist monströs!» ereifert sich Heinz Lachat. «Dieses ganze Westast-Projekt ist purer Grössenwahn und ein Verhältnisblödsinn!»

18 Jahre lang hat sich der heute 80jährige SP-Politiker als Mitglied des Stadtrats für die Entwicklung Biels engagiert, von 1994 bis 2002 sass er zudem im Bernischen Grossen Rat. Im Zusammenhang mit der N5 habe man früher stets von einer Umfahrungsstrasse gesprochen, um die Stadt zu entlasten. «Was aber jetzt gemacht werden soll, hat nichts mit Umfahrung zu tun», sagt Heinz Lachat bitter, «das ist eine Durchschneidung der Stadt.»

Als ehemaliger Buschauffeur kennt Heinz Lachat die Entwicklung des Verkehrs in Biel wie kaum ein anderer. In den letzten 40 Jahren habe sich viel verbessert, sagt er: «Früher fuhr man noch in beide Richtungen durch die Nidaugasse. Auf dem Zentralplatz, auf der Mühlebrücke und an der Dufourstrasse regelte ein Polizist den Verkehr – oft gab es im Zentrum ein Chaos.» Heute ist die Nidaugasse Fussgängerzone, der Zentralplatz und die Bahnhofstrasse sind verkehrsberuhigt… Auch die noch bestehenden Verkehrsprobleme seien lösbar, ist Heinz Lachat überzeugt. Allerdings nicht mit einer Autobahn: «Diese bringt keine Entlastung, sondern zusätzliche Autos.»

Das damals hypermoderne Hochhaus am Bahndamm war Heinz Lachat während seiner Busfahrten ins Auge gestochen. Als der Neubau 1964 fertig war, konnten sie gerade noch die letzte Wohnung im Parterre ergattern. Elf Jahre mussten sie auf ihre Traumwohnung im 6. Stock warten. Seither haben sie sich in luftiger Höhe ihr Zuhause liebevoll eingerichtet: Vom Badezimmer über die Küche, das Wohnzimmer – alles haben sie im Lauf der Zeit selber renoviert, erneuert, verschönert. Anfänglich hätten in allen 32 Wohnungen Schweizer gewohnt – heute hingegen sei ihr Haus ein Musterbeispiel, wie multikulturelles Zusammenwohnen funktionieren könne, erklären sie stolz. Dank dem engagierten Besitzer und der langjährigen Abwartin – der Seele des Hauses – sei das Haus heute in einem wesentlich besseren Zustand als noch vor ein paar Jahren.

Als das Ehepaar Lachat an der Murtenstrasse 71 einzog, wurden gleich gegenüber im Werk von General Motors Schweiz noch Autos produziert. Während der Stosszeiten, insbesondere bei Schichtanfang und ‑ende, war an der Ecke Salzhausstrasse-Murtenstrasse viel los. Lärm brachte auch der Schlachthof, wo die Tiere an Schlachttagen bereits ab vier Uhr morgens angeliefert wurden. «Das Muhen der Kühe und insbesondere das Quieken der Schweine war manchmal kaum auszuhalten», erinnert sich Rosmarie Lachat.

Trotzdem wollten sie nie weg: Die ideale Wohnlage, die Nähe zum Zentrum und zum Bahnhof, das Haus, die vergleichsweise günstige Miete – die über die Jahre selber gestaltete Wohnung mit den grosszügigen Zimmern, und natürlich die wunderbare Aussicht…

Die Befürworter des Westast-Anschlusses beim Bahnhof, bezeichnen die Ecke Murtenstrasse-Salzhausstrasse als einen Unort: Für Rosmarie und Heinz Lachat ist es das Gegenteil, nämlich Heimat. Auf die Frage, ob ihnen das Westast-Projekt Sorgen mache, sagt Rosmarie Lachat: «Laut neusten Informationen bleibt das Haus stehen. Wer aber will direkt über einem Autobahn-Loch leben?» Was dann? Die traurige und pragmatische Antwort von Heinz Lachat: «Wir sind jetzt 78 und 80 Jahre alt – Baubeginn ist frühestens in vier Jahren. Vielleicht werden wir ihn gar nicht mehr erleben müssen – und die Fertigstellung der Autobahn sowieso nicht.»

Text: © Gabriela Neuhaus, Herbst 2016

 

 
 
 

SCHATZ HINTER DEM BAHNHOF

Monica Meyer empfängt uns vor dem schmuck renovierten Haus. «Wir sind die Perle des Quartiers», bemerkt sie leise lachend, nicht ohne Stolz. In der Tat: Rundum Häuser in schlechtem Zustand, denen man anmerkt, dass hier seit Jahren kaum mehr in den Unterhalt investiert wurde. Weil hier dereinst Ablageflächen für die Westast-Baustelle eingerichtet werden sollen, müssen die Häuser weg. Alle – bis auf die ehemalige Giesserei am Wydenauweg 34, in der das Maschinenmuseum Müller untergebracht ist.

Fotos: © Anita Vozza

So hiess es zumindest – bis vor gut einem Jahr. «Damals meldete sich die Firma Geotest bei uns, sie müssten auf dem Gelände Probebohrungen machen, im Hinblick auf den geplanten Abriss der Liegenschaft», kommt Monica Meyer gleich zur Sache. Die Hiobsbotschaft traf sie völlig unvorbereitet: Bis dahin hatte man geglaubt, dass nach der Fertigstellung des Autobahntunnels rund um das Museum ein Park entstehen würde…

Nicht im entferntesten hatten die Eigentümer damit gerechnet, dass das historische Industriegebäude mit Baujahr 1901 gefährdet sei, als sie es vor 16 Jahren total saniert und umgebaut haben: Auf zwei Stockwerken beherbergt es heute eine weltweit einmalige Kollektion historischer Maschinen aus den Anfängen der Maschinen- und Uhrenindustrie. Das Dachgeschoss mit den mächtigen Sichtbalken wurde zu einem Veranstaltungsraum ausgebaut. «Das Museum liegt ideal, zwischen See und Bahnhof – ein guter Ort auch für Firmenanlässe, Hochzeiten oder Taufen», schwärmt Monica Meyer, die das private Museum leitet.

Besitzerin der Liegenschaft und Betreiberin des Maschinenmuseums ist die Muller Machines SA – ein alteingesessenes Familienunternehmen, das weltweit mit Occasion-Werkzeugmaschinen handelt. Schon seit Jahren sammelten der heutige CEO Michel Müller sowie sein Vater und dessen Bruder historische Raritäten, die sie vorerst im Keller der Firma aufbewahrten. Der Traum vom eigenen Museum konkretisierte sich dann im Vorfeld der Expo 2001.

«Wir waren eine kleine Equipe und haben das ehrgeizige Projekt, neben dem Tagesgeschäft in der Firma, mit viel Herzblut umgesetzt», erzählt Monica Meyer, Geschäftsleitungsmitglied der Muller Machines SA.  – Der Einsatz hat sich gelohnt: Das Maschinenmuseum Müller ist einzigartig und ein fester Wert in der Schweizer Museumslandschaft. Es versammelt unzählige kostbare Einzelstücke aus der Hochblüte der Maschinen- und Uhrenindustrie. Bekannte Namen wie Schaublin SA Bévilard, Henri Hauser SA oder Mikron erinnern an die bewegte Industriegeschichte der Region Biel und darüber hinaus. Imposante Maschinen, wie etwa das Décolletage-Atelier aus dem 19. Jahrhundert, das noch bis vor wenigen Jahren in Betrieb war oder die immer noch funktionstüchtige Friktions-Spindelpresse aus Deutschland, Jahrgang 1909, versetzen Besucherinnen und Besucher ins Staunen. «Diese Maschine wiegt 15 Tonnen und wurde vor über 30 Jahren eigentlich für den Wiederverkauf erworben», weiss Monica Meyer und erklärt, wie die Presse einst betrieben wurde. Sie kennt die Geschichte jeder Maschine – ob gross oder klein – und beschreibt ihre einstige Funktion.

Die Exponate sind nicht nur einladend ausgestellt, sondern auch gut dokumentiert. Das Maschinenmuseum Müller figuriert nicht zufällig auch auf der Informationsplattform für Schützenswerte Industriekulturgüter der Schweiz ISIS. Die private Sammlung sei von nationalem Interesse und müsse unbedingt erhalten bleiben, sagen Industriehistoriker der Universität Neuenburg. Auch Westast-Projektleiter Stefan Graf sei voller Lob für das private Museum gewesen, als er es vor rund zehn Jahren einmal besucht habe, erinnert sich Monica Meyer. «Als ich erfahren habe, dass wir wegkommen, habe ich ihn gleich angerufen. Er sagte, dass es ihm leid tue um das Museum…»

Er habe dann vorgeschlagen, man könne das Haus ja um 300 Meter verschieben, wie man es in Oerlikon mit dem historischen MFO-Gebäude gemacht habe. «Ich fragte ihn, in welche Richtung er am ehesten vorschlagen würde… Niemals hätten wir in das Museum investiert, wenn wir damals auch nur im entferntesten geahnt hätten, was uns jetzt erwartet», sagt Monica Meyer – und stellt in Aussicht, dass Machines Muller SA im Rahmen der Planauflage Einsprache erheben werden.

Noch besteht Hoffnung – das letzte Wort ist längst nicht gesprochen. Doch die Vorbereitungsarbeiten für die angedrohte Zerstörung laufen weiter: Anfang Januar wurde im Garten des Museums erneut gebohrt: Bei den ersten Untersuchungen hatte man festgestellt, dass der Boden rund um die alte Giesserei kontaminiert ist. Deshalb müsste nun auch noch das Grundwasser in rund neun Metern Tiefe untersucht werden, erklärt die Geologin. Das sei Routinesache, wenn auf einem Grundstück ein Bauvorhaben anstehe…

Text: © Gabriela Neuhaus, Januar 2017

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