«DIE GEILSTE STADT DER WELT»

 

«I bin e Seegring», sagt Kaj Evers  «aufgewachsen am Murten- und Bielersee.». Später hat er fast 20 Jahre in Deutschland gelebt. Zuerst im Norden, dann mit seiner Partnerin Andrea in Süddeutschland. 2010 haben sie geheiratet und sind kurz darauf in die Schweiz gezogen. Weil Kaj, nach 14 Jahren als Tourbegleiter und Lichtdesigner in Deutschland, ein verlockendes Jobangebot aus der Schweiz bekam. In der Folge reiste er mit Ursus und Nadeschkin durchs Land und rückte die beiden Abend für Abend ins rechte Scheinwerferlicht. Auf dieses erste Engagement in der Schweiz folgten weitere. Aktuell arbeitet Kaj als Technischer Leiter am Hechtplatz-Theater in Zürich.

Trotzdem liess sich das Paar, nach ersten Zwischenstationen in Winterthur und im Tösstal, vor drei Jahren in Biel nieder. «Bald war uns beiden klar, dass wir künftig in Biel wohnen wollten», sagt Andrea Nagel Evers. Weil Biel die geilste Stadt der Welt sei, ergänzt Kaj. Das einzige, was dagegen gesprochen habe, war sein langer Arbeitsweg. Aber damit könne man leben.

alle Fotos © 2017 Anita Vozza

«Wir sind absolute Biel-Fans», schwärmt Kaj. «Die Mentalität hier, der frankophone Einfluss, das multikulturelle Zusammenleben… Dann die Natur, rundherum: Der See, man ist schnell im Wald, auf dem Berg – das sind wichtige Faktoren.»

Auch Andrea, die Biel anfänglich nur von Ferienbesuchen bei Kajs Mutter und Freunden gekannt hat, fühlte sich sehr schnell im Seeland zuhause. «Mir gefällt das Laisser-Faire in Biel», sagt sie. «Biel ist etwas bescheidener als zum Beispiel Zürich. Die Leute sind nicht sehr obrigkeitsgläubig, man schaut nicht so sehr darauf, was der andere macht – jeder hat Platz, so zu leben, wie er es möchte. – Biel ist für mich an vielen Stellen eine Art Klein-Berlin.»

Vor zwei Jahren haben sie in unmittelbarer Nähe zum See und zum Strandboden dann ihr Paradies bezogen: Eine Fünfzimmerwohnung im sogenannten Bührer-Haus, am Unteren Quai 30. Mit einer wunderbaren Stube, einer gemütlichen Wohnküche und einem grossen Garten.

Das stattliche Landhaus wurde 1953 von den bekannten Bieler Architekten Gebrüder Bernasconi im Auftrag der Baufirma Bührer & Co. AG gebaut. In der 7‑Zimmerwohnung im Obergeschoss wohnte die Familie des Patrons, im Untergeschoss waren die Büros untergebracht. Auch heute noch arbeiten der Firmenchef und seine Prokuristin regelmässig in den Kellerbüros.

Andrea und Kaj bewohnen die grössere der beiden Wohnungen im Erdgeschoss. Als sie eingezogen sind, glaubten sie, das Haus gehöre nach wie vor ihrem Vermieter Nicolas Bührer. Erst ein Anruf aufs Grundbuchamt verschaffte Klarheit: Die Liegenschaft war bereits in den 1990er Jahren ans Tiefbauamt des Kantons Bern verkauft worden. Es soll, wie die umliegenden Gebäude des Wydenauquartiers, einem Installationsplatz für die A5-Baustelle weichen.

Auch davon wussten Kaj und Andrea nichts, als sie im April 2015 den Mietvertrag für ihre Traumwohnung unterschrieben. Dieser enthielt eine Klausel, dass sie frühestens nach zwei Jahren kündigen durften. «Uns gefiel die Wohnung so gut, wir wollten ohnehin bleiben, also störte uns das nicht», sagt Andrea Nagel.

Der Kanton Bern will natürlich nicht mehr viel in den Unterhalt der Liegenschaft investieren, da sie ja ein Abbruchobjekt ist.  Beim Einzug haben Kaj und Andrea die Wände selber frisch gestrichen und die Wohnung auf Vordermann gebracht. Das Gute an der Situation: Sie hatten dafür weitgehend freie Hand.

Der grosse Garten ist Andreas Reich. Dass es jetzt im Frühling grünt und blüht, ist das Resultat stundenlanger Arbeit. «Gärtnern ist eine wunderbare Therapie», schwärmt sie. Das lauschige Gartenhaus haben sie selber aufgestellt, bald schon kommt wieder die Zeit, wo es zum Geniessen von lauen Sommerabenden einlädt.

Perfektes Glück – gäbe es das Westast-Projekt nicht. Der drohende Abbruch ist belastend, zuweilen gar lähmend, sagt Andrea: «Wenn ich zum Fenster raus, in den Garten schaue, überkommt mich ein Schmerz – dass all meine Pflanzen der Baustelle, dem Beton weichen sollen. Oder kürzlich, als ich drinnen ein Bild aufhängen wollte, ertappte ich mich beim Gedanken, dass das jetzt eh nichts mehr bringt. Obschon das Quatsch ist, man darf sich durch das drohende Bauprojekt nicht einschränken lassen…»

Viel schlimmer als für sie sei die Situation jedoch für ihre Nachbarin und ihren Partner, sagt Andrea. Das Paar lebe seit über 20 Jahren im Bührer-Haus und sei in einem Alter, wo es schwierig sei, eine neue Bleibe zu finden. Zumal die Lage am Unteren Quai, nahe zum Bahnhof, zum See und zur Stadt, einmalig sei – nicht nur für Pendler wie Kaj, sondern gerade auch für ältere Menschen.

«In Berlin habe ich verschiedentlich erlebt, dass ein Haus, in dem ich wohnte, abgerissen oder umgebaut wurde. Klar war: Wenn man aus der Wohnung raus musste, hat man eine Ersatzwohnung erhalten, von gleicher Qualität und zum gleichen Preis. – So etwas gibt es hier nicht», kritisiert Kaj.

Wenn diese monströse Autobahn mitten durch die Stadt gebaut werde, sei es eh aus mit der Lebensqualität in Biel, befürchtet er. «Den Tourismus kannst du dann gleich vergessen – wer will seine Freizeit schon auf einer Baustelle verbringen – das ganze Flair von Biel geht flöten», fährt er fort.

Zudem berge eine solch riesige Baustelle für eine kleine Stadt wie Biel ein immenses Stresspotenzial: «Wenn überall nur noch Baulärm dröhnt – das wird ja nicht nur hier zu hören sein, sondern auch mitten in der Stadt… Und dazu das Verkehrschaos: Man kommt nirgendwo mehr durch, wir durch Nadelöhre gelotst – das ist purer Stress, über eine wahnsinnig lange Zeit.»

«Wenn dieses Projekt tatsächlich durchkommt und gebaut wird, würde mein Vertrauen in den gesunden Menschenverstand ziemlich schwinden», sagt Andrea. Biel würde sich zwar nicht grundlegend verändern, auch die Autobahn könnte den Charme, das lockere Lebensgefühl von Biel nicht komplett wegbetonieren. Trotzdem: Die Vorstellung, in einer Stadt zu leben, wo Politiker und Behörden ein solch überdimensioniertes und veraltetes Projekt gegen den Willen und die Interessen der eigenen Bevölkerung erzwingen können. Wenn das in ihrem geliebten Biel Tatsache würde, wäre dies eine Riesenenttäuschung.

Noch ist es nicht soweit. Kaj und Andrea wollen mit vielen Gleichgesinnten kämpfen, um das Autobahnprojekt doch noch zu verhindern. Damit der Charme, das Flair von Biel erhalten bleiben.

Text: © Gabriela Neuhaus, Frühjahr 2017


 

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