GESTERN GASTHAUS – HEUTE WOHNHAUS – MORGEN ABBRUCHHAUS?
Das stattliche Gebäude, gleich linker Hand, wenn man vom See her kommt, versteckt sich hinter dem Bahndamm und altehrwürdigen Bäumen. Das war nicht immer so: Vor gut zweihundert Jahren, als es gebaut wurde, lag das damalige Wirtshaus direkt am Wasser. Mit Bootsanlegestelle und einem «Badhüsi». Laut Überlieferung extra gebaut für die Frau des Bauherrn, die es liebte, im See zu baden…
Im Inventar der kantonalbernischen Denkmalpflege figuriert das erhaltenswerte Gebäude als «ehemaliger Gasthof mit Badwirtschaft, zum Schiff’» – Baujahr 1814. Die Juragewässerkorrektion und der Bau der Eisenbahn Mitte des 19. Jahrhunderts rückten das Gasthaus vom See weg. Es wurde mehrfach umgebaut und beherbergt seit 1892 nur noch Wohnungen.
«5‑Zimmerwohnung in Biel West, Blick ins Grüne – so stand es im Inserat», erinnert sich Regula Walther. Vor 17 Jahren ist sie hier eingezogen. Damals absolvierte sie eine künstlerische Ausbildung in Malerei. Ihr Traum: Eine WG an einem Ort, wo sie auch ihr Atelier einrichten konnte. Die geräumige Parterre-Wohnung, umgeben von einem regelrechten Park, war ein Glücksfall. Das alte Haus, mit seinen dicken, geschichtsträchtigen Mauern und der Blick ins Grüne hätten sie von Anfang an fasziniert, sagt die Künstlerin. Diesen Blick ins Grüne, fügt sie an, geniesse sie bis heute jeden Tag.
«Genial an dieser Wohnung ist, dass sie sich meinen Lebenssituationen immer wieder angepasst hat» schwärmt Regula Walther. Als sie ihren Mann kennen lernte, sei die Zeit der WG vorbei gewesen und sie habe den vielen leeren Platz in ihrer Wohnung für eine Ausstellung genutzt. «Die Leute hatten das Gefühl, sie seien in einer Galerie.»
Für ihre neue Liebe wäre Regula bereit gewesen, die Wohnung aufzugeben. Trotzdem fragte sie ihren damaligen Freund und heutigen Mann, ob er es sich vorstellen könnte, hier einzuziehen. Und siehe da: Offenbar hatte sich Ismaelino nicht nur in die Frau verliebt, sondern auch in das 200 Jahre alte Haus. So wurde aus der WG- und Ausstellungswohnung eine Paar- und bald einmal auch eine Familienwohnung.
An diesem sonnigen Frühsommertag sitzt Regula mit den beiden Buben Eli-Rafael und Felipe-Moe vor dem Atelier-Fenster im Halbschatten. Der Kleine schläft im Wagen, während sein älterer Bruder damit beschäftigt ist, den Kies vom Gartenweg mit einer Schaufel auf seinen Plastiktraktor zu laden.
Damit kommt er den Strassenbauern zuvor, die just hier eine zehn Meter tiefe, offene Schneise für die A5-Westastautobahn graben wollen. Dabei liegt der Park der Liegenschaft Seevorstadt 5–7 nicht nur in unmittelbarer Nähe des Naturschutzgebiets Felseck, sondern figuriert selber auf der Liste historischer Gärten und Anlagen der Schweiz. Speziell erwähnt sind mehrere schöne Einzelbäume, namentlich eine alte Robinie und eine Rosskastanie. Ein besonderer Ort ist aber auch der Platz unter dem grossen Nussbaum, der Gross und Klein zum Verweilen einlädt.
Während wir uns unterhalten, fliegt ein Entenpaar herbei und macht es sich im saftigen Gras bequem. «Wir sehen hier auch Dachse, Füchse – Rehe kommen auf Besuch», erzählt Regula Walther. Die Tiere lassen sich von den Zügen, die in unmittelbarer Nähe über den Bahndamm passieren, nicht stören. Genauso wenig wie die Menschen. «Die Züge haben uns nie gestört. Die Strasse sehen wir nicht einmal und hören sie auch kaum, weil sie etwas tiefer liegt. – Drinnen ist es sowieso ruhig, weil die dicken Mauern bestens isolieren», antwortet Regula Walther auf die Frage, wie sie mit dem vielzitierten Verkehrslärm zurechtkomme.
Die Wohnungsbesichtigung beginnen wir im hellen, geräumigen Atelier, in das wir vom Garten her durch’s hohe Fenster, einsteigen. Ein grosser, luftiger Raum – überall stehen Bilder bereit für die nächste Ausstellung.* Im Sommer bleibe es hier immer angenehm kühl, erzählt Regula Walther. Im Innern des Hauses steige die Temperatur nie über 24 Grad.
Die Kehrseite der Medaille: Auch in der kalten Jahreszeit bleibt es kühl, zwischen den dicken Mauern. Das Atelier, ein rund hundertjähriger Anbau, ist schlecht isoliert. Im Winter trage sie immer einen dicken Faserpelz, wenn sie hier am Malen sei, sagt Regula Walther. Leider sei auch der Rest der Wohnung schwer zu heizen, was nicht ideal sei, für die Kinder. Angesichts des drohenden Abbruchs lohnt es sich allerdings nicht, noch gross in das Haus zu investieren…
Immerhin: Vor zwei Jahren hat der Hauseigentümer die Inbetriebnahme des riesigen, wunderschönen Kachelofens, der während Jahrzehnten nicht mehr in Gebrauch war, finanziert. Schon dessen blosser Anblick strahlt Wärme aus – wie gemütlich und warm muss es auf dem Ofenbänklein erst sein, wenn er eingeheizt ist!
Das Prachtstück ziert heute das geräumige Wohnzimmer der Familie Walther. Der schöne Raum mit Eichenparkett diente vor 200 Jahren wahrscheinlich als Gaststube. Was die Wände wohl für Geschichten erzählen könnten?
Diese Frage geht der Besucherin auch bei der Besichtigung des schön renovierten Treppenhauses nicht aus dem Kopf, wo ein Teil der originalen Konstruktion ans Tageslicht geholt und zu neuem Leben erweckt wurde. Unerträglich, die Vorstellung, dass dieses stolze Mauerwerk einer unnötigen Autobahnrampe weichen soll!
«Ich finde es völlig unlogisch» sagt Regula Walther, «dass auf so kurzer Distanz zwei vierspurige Autobahnanschlüsse geplant sind, und die Nationalstrasse durch die Stadt zwei Spuren pro Richtung aufweist während die Strassen im Vor- und Nachlauf einspurig bleiben.»
Die Künstlerin und Marketingfachfrau mit Spezialgebiet Innovation stellt das geplante Projekt grundsätzlich in Frage: «Es geht um die Frage, wie sich die Stadt positionieren will. – Man hat den Innovationscampus nach Biel geholt. Das bedeutet, hier sollen bahnbrechende Neuigkeiten entstehen! – Bei der Lösung der Verkehrsprobleme werden Entscheide für die Zukunft getroffen, es geht um lange Zeithorizonte. Die Mobilität wird sich verändern; die Digitalisierung durchdringt zunehmend alle Lebensbereiche, diese Trends werden weiter gehen. Gewohnheiten und Verhalten verändern sich nicht kurzfristig… Aber man stellt Weichen.»
Auch als Familie müssen Regula Walther und ihre drei Männer mittelfristig ihre Weichen stellen. Eigentlich würden sie am liebsten bleiben, nicht daran denken, dass ihr Daheim vom Abbruch bedroht ist und sie vertrieben werden.
Wie schon ihre Vormieter, pflegt Regula Walther die üppigen Rosen im Garten mit Hingabe. Einzig der neu hinzugekommene Rosenstock, ein Hochzeitsgeschenk, weist darauf hin, dass sie damit rechnet, eines Tages hier fortzumüssen: Sie hat ihn bis heute nicht in ein Gartenbeet verpflanzt, sondern im Tontopf belassen – bereit, für einen allfälligen Umzug.
«Wenn die Kinder in die Schule kommen, brauchen wir als Familie einen Ort, wo wir bleiben können», sagt Regula Walther. Einen Ersatz zu finden, eine vergleichbare Oase, so ideal gelegen wie hier, in unmittelbarer Nähe zum Strandboden, zur Altstadt, zum Bahnhof – das dürfte schwierig sein.
Text: © Gabriela Neuhaus, Juni 2017
* «Schichten und Schüttungen», vom 14. Juni bis 2. Juli 2017 im Espace 38 am Oberen Quai in Biel