ÜBER DAS EIGENE GÄRTLI HINAUS DENKEN

Die Eröffnung der A5-Ostastautobahn Ende Oktober soll für grosse Teile der Stadt Biel eine Verkehrsentlastung bringen. Das wird von den Behörden seit Monaten behauptet und versprochen. Allerdings ist davon auszugehen, dass die neue Hochleistungsstrasse gleichzeitig neuen Verkehr anziehen wird. Entlastung für einige Quartiere der Stadt, neue Belastung für andere. Gleiches gilt für die angrenzenden Gemeinden.

So freute sich kürzlich eine Autofahrerin aus Schüpfen: Wenn erst einmal der Ostast offen sei, werde sie künftig über Biel und Solothurn nach Luzern zu ihren Enkeln fahren – das sei angenehmer als über die A1

Solange es sich um Transitverkehr handelt, der über die Autobahn rast, werden das die Bielerinnen und Bieler kaum spüren. Andere dafür umso mehr. So sagte etwa Ruedi Wild, Präsident der SP Twann-Tüscherz anlässlich einer Informationsveranstaltung zum A5-Westast: «Wenn am 27. Oktober der Ostast der Autobahn A5 eröffnet wird, mag das für Biel eine gewisse Beruhigung bringen. Durch die Steigerung der Attraktivität ist aber eine Zunahme des Verkehrs von und nach Twann-Tüscherz und La Neuveville – Neuenburg um 22% auf 15’900 Fahrzeuge pro Tag zu befürchten.»

Für die Eröffnung des Westasts, so Wild weiter, stellten die Verkehrsplaner gar 30 Prozent Mehrverkehr in Aussicht. Dies würde bedeuten: In jede Fahrtrichtung im Durchschnitt alle 6 Sekunden ein Personenwagen sowie alle zwei Minuten ein LKW oder Bus. «Wenn sich gewisse Bieler auf den Westast freuen, legen sie eine ‚Nach mir die Sintflut’-Mentalität an den Tag», schloss der Twanner Politiker seine Ausführungen.

Dies zeigt: Die Beschränkung der Westast-Kritik auf die beiden innerstädtischen Anschlüsse und deren negative Auswirkungen auf das Stadtbild, greift zu kurz. Die Kapazitätserweiterungen mittels A5-Durchquerung von Biel wirken sich auf die ganze Region aus – und beeinträchtigen die wertvollen Kulturlandschaften am Bielersee. Die notabene von hohem touristischem Wert sind, auch für die Stadt Biel.

An besagter Veranstaltung in Twann war die Rebhalle brechend voll. Gemeindepräsidentin Bohnenblust bemerkte lachend, sie hätte noch nie an einer Versammlung so viele Leute getroffen. Nicht von ungefähr: Das Bielersee-Nordufer ist ganz besonders betroffen. Bereits seit der Einführung der Leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe (LSVA) leidet man hier unter einer enormen Zunahme des Schwerverkehrs. Entsprechend verunsichert und wütend ist die Twanner Bevölkerung: Sie befürchtet zu Recht, dass Biel auf ihre Kosten verkehrsberuhigt wird.

Hatten in den 1960er Jahren insbesondere die Gastwirte in den Rebbaudörfern noch dafür gekämpft, dass die Hauptverkehrsachse dem Nordufer entlang geführt wird, machte sich nach deren Fertigstellung bald Ernüchterung breit. Was damals als opportun galt, hat sich unterdessen als Bumerang erwiesen, wie kürzlich ein Twanner bemerkte: «Bei uns schliesst ein Restaurant nach dem anderen: Die Ilge geht zu, der Rebstock steht zum Verkauf, das Hotel Fontana ist geschlossen und auch die Tage des Twanner Stüblis sollen gezählt sein… Ein wenig sind wir selber schuld: In den 1960er Jahren wollten wir die Strasse unbedingt – und jetzt ist man gestraft.»

Das linke Bielerseeufer ist eine Landschaft von nationaler Bedeutung. Deren besonderer Reiz besteht, so das Bundesinventar, «im harmonischen Wechsel und in der Verzahnung kompakter Dörfer mit den weitgehend erhaltenen historischen Siedlungsrändern, Rebbergen, Felsen, einzelnen Gehölzen und trockenwarmen Magerwiesen.» Das Rebbaugebiet mit den Trocken- und Bruchsteinmauern sowie die historischen Ortskerne gelten als besonders schützenswert.

Auch heute noch. Obschon der Bau der Nationalstrasse in den 1970er Jahren sehr viel unwiederbringlich zerstört hat. So etwa das ehemals prächtige Hotel Engelberg in Wingreis, von dem heute einzig noch der Eingangspavillon steht. Der malerische Weiler auf der Bergseite der Strasse fristet seit dem Ausbau der Strasse ein kümmerliches Dasein hinter Lärmschutzmauern.

 

Tüscherz-Alfermée, das Dorf am steilen Rebhang, hatte im 19. Jahrhundert dank der Juragewässerkorrektion neues Land hinzugewonnen. Am Ufer entstand ein Unterdorf, umgeben von Rebgärten mit Seezugang. Dieses ganze Unterdorf wurde 1969 abgerissen und der Erweiterung von Strasse und Eisenbahntrasse geopfert. Seither umrahmen klobige Betonpfeiler und hässliche Stützmauern den denkmalgeschützten Kern des Oberdorfs.

Eine Zerstörung ohnegleichen, betrachtet man heute die Überreste des einst lebendigen Dorfes. Die langfristigen Folgen dieses Eingriffs sind jedoch noch viel gravierender: Der Verkehrslärm hat das Dorfleben zum Erliegen gebracht, die gläsernen Lärmschutzwände, die man vor ein paar Jahren im Dorfzentrum aufgestellt hat, wirken wie schierer Hohn und erinnern an einen Zoo.

Seit den 1980er Jahren hat die Bevölkerung von Tüscherz-Alfermée diesen Zustand angeprangert – und für Lösungen gekämpft. So ist etwa in einer Broschüre aus dem Jahr 1989 nachzulesen: «Vor allem die Nationalstrasse ist heute in Tüscherz-Alfermée derart dominant, dass keine Tätigkeit im Alltag der Bewohner und Gäste ohne Einwirkung bleibt. Die ständige Zunahme des Verkehrs hat die Gemeinde zum Handeln bewegt: Tüscherz-Alfermée fordert den Rückbau der N5 und die Verlegung der Verkehrsstränge in den Berg.»

Das ist bekanntlich nie geschehen. Die heutige Gemeinde Twann-Tüscherz hat deshalb in ihrer Einsprache zum Westast A5-Projekt klar die Forderung gestellt, dass auch Tüscherz-Alfermée einen Tunnel erhalten müsse.

Dabei stellt sich die Frage, wieviele Tunnelportale der fragile Jurahang wohl verträgt. Auch in Twann ist nämlich für die ferne Zukunft ein Tunnel geplant – nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ist das Projekt aktuell in Überarbeitung, um eine landschaftsverträglichere Lösung zu finden. Die Geologie stellt die Tunnelbauer aber vor einige Probleme.

In Tüscherz-Alfermée kam es 1944 zu einem grösseren Bergsturz, der damals die Bahngleise verschüttete. Kurt Bögli, Ingenieur und alt Gemeindepräsident von Tüscherz-Alfermée ist überzeugt, dass es wesentlich stärkere Betonverbauungen und Stützmauern braucht, als sie aktuell für das Westportal des Vingelztunnels, vorgesehen sind.

Dorf für Dorf den Verkehr in den Berg verlegen, ist und bleibt ein unvernünftiges Flickwerk. Eine nachhaltige Lösung braucht grossräumiges Denken und den Mut zur Korrektur von Fehlern. 1997 initiierte Bundesrat Leuenberger die Prüfung von Alternativen zum geplanten Westast, weil er die Linienführung der N5 entlang dem Nordufer des Bielersees für falsch hielt. Damals scheiterte er mit seinem Vorstoss.

Im Jahr 2009 erstellte das Geographische Institut der Universität Bern 2009 im Auftrag von Tüscherz-Alfermée ein Gutachten zur Weinbaulandschaft am Bielersee. Darin steht klipp und klar: «Für die Weinbaulandschaft Bielersee-Nord braucht es einen grundlegenden politischen Entscheid auf der überregionalen Ebene zu Gunsten dieser gewachsenen Landschaft oder aber zu Gunsten der Siedlungserweiterung oder des Fernverkehrs. Die drei Szenarien schliessen sich gegenseitig aus. Die vier Gemeinden haben sich einzeln für die Weinbaulandschaft entschieden, jetzt müssen sie dies vermehrt gemeinsam tun und die überregionalen politischen Instanzen von der Richtigkeit dieses Entscheids überzeugen.»

Der Schutz der einmaligen Landschaft am Nordufer des Bielersees ist von nationalem Interesse. Deshalb sind die Behörden und die Bevölkerung aufgerufen, über Gemeinde- und Projektgrenzen hinweg, grossräumig nach nachhaltigen Lösungen zu suchen. Dabei hilft die Tatsache, dass wir in der Schweiz bereits ein derart engmaschiges Netz an Hochleistungsstrassen haben, dass die A5 zwischen Biel und La Neuveville ohne Not rückgebaut und ein für alle Mal aus dem Nationalstrassennetz eliminiert werden kann.

©Text: Gabriela Neuhaus, 2017

 


 

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