Das alte Weidteile-Quartier beim Sandhaus trifft es als Erstes: Bei Baubeginn der Autobahn werde hier zuerst planiert, und dann baue man die Rampe für die Autobahn, verkündete Westast-Projektleiter Christoph Graf anlässlich einer Informationsveranstaltung bereits im letzten Herbst. Die offizielle Mitteilung, dass ihr Haus an der Gurnigelstrasse 42 in Nidau der A5-Autobahn geopfert wird, haben Christine und Christoph Ammon jedoch erst Ende März erhalten. Gerade mal drei Wochen vor Beginn des Planauflageverfahrens.
Vor zwei Jahren schon, flatterte hingegen ein Brief der Firma Geotest ins Haus, die sich für ein Gebäudescreening anmeldete. Im Auftrag des Kantons klärten deren Spezialisten damals bereits ab, ob im Falle eines Abbruchs Sondermüll anfallen würde. Der Grund: In der Nachkriegszeit, als das Zweifamilienhaus (Baujahr 1910) renoviert wurde, verwendete man für die Befestigung von Kacheln in Küche und Bad oft asbesthaltigen Kleber. Heute bereut Christoph Ammon, dass er Geotest damals Zugang in sein Haus gewährt hat: «Es ist eine Frechheit, solche Untersuchungen zu einem Zeitpunkt zu machen, wo man nicht einmal weiss, ob das Haus je abgerissen wird.»
In der Tat wurde die Linienführung für den Westast während der jahrelangen Planungszeit immer wieder verändert. Lange habe es danach ausgesehen, als würde sein Haus nicht tangiert, erzählt der Ingenieur. Auf dem Modell im A5-Infopavillon sei das Haus noch gestanden – mit der Projektplanung, die im September 2014 publiziert wurde, war es dann wegradiert. «Zwischendurch gab es auch merkwürdige Bilder: Unser Haus, ganz allein am Abgrund», erinnert sich Christoph Ammon. Im April 2015 bot das Nidauer Gemeinde-Informationsblatt den A5 Westastpromotoren eine Plattform. Mit dabei, die Stadtpräsidentin Sandra Hess, welche die Werbetrommel kräftig schlug und nebenbei behauptete, die Liegenschaftsbesitzer, deren Häuser weichen müssten, seien längst informiert. Was überhaupt nicht den Tatsachen entsprach, wie Christoph Ammon seiner Stadtpräsidentin umgehend in einem Brief mitteilte. Die dürre Antwort: Eine E‑Mail vom Stadtschreiber, der ihn aufforderte mit dem Westast-Projektleiter Stefan Graf in Bern telefonisch Verbindung aufzunehmen, um die Sache zu klären.
Rund ein halbes Dutzend Mal habe er vergeblich versucht, den vielbeschäftigten Ingenieur zu erreichen, sagt Christoph Ammon. Dann hat er aufgegeben. «Das war vielleicht ein Fehler, ich hätte insistieren sollen», meint er heute. Sein damaliger Nachbar, Gerhard Seidel, war hartnäckiger. Als er schliesslich den Projektleiter Graf vom kantonalen Tiefbauamt am Draht hatte, erklärte sich dieser für nicht zuständig – und verwies ihn an die Liegenschaftsverwaltung des Kantons Bern. Dort schliesslich bestätigte der zuständige Sachbearbeiter Werner Schindler, dass sowohl Seidels wie auch Ammons Haus der Autobahn weichen müssten.
Christine Ammon findet das Verhalten der Behörden unerträglich. Die Tatsache, dass sie als Bürgerin und Quartierbewohnerin kein Mitspracherecht bei der Autobahnplanung hat, macht sie wütend. Ihre erste Reaktion, als sie über die geplante Linienführung gelesen hat: «Das ist brutal, genau wie in China: Man siedelt einfach um.»
Kommt dazu, dass das vorliegende Projekt keinen Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität in der Region leiste, im Gegenteil: «Diese Anschlüsse mitten in der Stadt sind lächerlich», sagt Christine Ammon. «Wir lebten längere Zeit in den USA – dort fährt man unzählige Kilometer von einem Anschluss zum nächsten. Autobahnen sind dazu da, Städte mit einander zu verbinden und nicht für die Verkehrsentlastung innerhalb einer Stadt.» Christine und Christoph Ammon betonen beide, dass sie durchaus bereit wären, ihr Haus für ein vernünftiges Projekt zu opfern – nicht aber dem aktuell geplanten, überdimensionierten Bauvorhaben.
Ihre Nachbarn, die ein Leben lang hier gewohnt hatten, haben ihr Haus Ende 2016 dem Kanton verkauft und sind weggezogen. «Sie sind über 70jährig und haben die Situation nicht mehr ausgehalten. Der Ehemann ist gesundheitlich schwer angeschlagen – aus meiner Sicht steht das in direktem Zusammenhang mit der ganzen Situation – eine traurige Geschichte», sagt Christine Ammon.
Der Nachbar habe lange gegen die Zerstörung seines Elternhauses und des idyllischen Quartiers, in dem er sein ganzes Leben verbracht hat, gekämpft. Unter anderem war er auch aktives Mitglied der Interessensgemeinschaft Lebensqualität Biel-West LQV, die 2007 gegründet worden war, um eine stadtverträglichere Westast-Lösung zu ermöglichen. Er ist nicht der erste engagierte Kämpfer, der aufgegeben hat.
Auch Ammons wissen nicht, wie lange sie noch durchalten werden. Die belastende Ungewissheit, wie es weitergehe, wie lange man noch bleiben könne, sei zermürbend, sagt Christoph Ammon. – Doch weg möchten sie nicht, zumal es praktisch unmöglich ist, in der Umgebung Alternativen zu finden. Deshalb haben sie bisher auch nicht erwogen, in Verkaufsverhandlungen mit dem Kanton zu treten. «Wir wollen unser Haus nicht weggeben – und dann kommt die Strasse plötzlich doch nicht», meint er. Und Christine Ammon fügt an: «Ich glaube immer noch an den gesunden Menschenverstand, dass das nicht kommt.»
Text: © Gabriela Neuhaus, Herbst 2016