Die grosszügige Altbauwohnung wirkt sogar an diesem düsteren Novembernachmittag hell und freundlich. Die Bäume vor den Fenstern haben schon viel Laub verloren, so dass sie den Blick auf die Strasse freigeben. «Seit der Ostast offen ist, hat der Verkehr hier massiv abgenommen», sagt Markus Neuenschwander. «Vorher gab es während der Stosszeiten am Morgen, über Mittag und abends regelmässig Staus – die sind weg.»
Seit 18 Jahren wohnen Markus und Manuela Neuenschwander mit ihren Töchtern in der Seevorstadt Nr. 7. Das rund hundertjährige Haus ist eine Erweiterung des ehemaligen Gasthofs «zum Schiff» und steht unter Denkmalschutz. Trotzdem müsste auch dieses altehrwürdige Gebäude der Autobahn weichen, wenn der A5-Westast wie geplant gebaut würde.
Markus Neuenschwander nimmt es mit Gelassenheit: «Wir bleiben, bis die Bagger kommen», sagt er. Mit gutem Grund: Die Lage ist einmalig. Mitten in der Stadt und gleichwohl im Grünen, am See. Vor drei Jahren tauschte die Familie ihre 4,5‑Zimmerwohnung im obersten Stock gegen jene in der Mitte. Wegen der grossen Terrasse, auf die man durch die Küche gelangt. Ein wahres Paradies für lauschige Sommerabende.
Erst kürzlich hat Markus Neuenschwander für die 20jährige Tochter zwei Mansarden unter dem Dach zu einer Mini-Wohnung ausgebaut. Für ihren Schulweg ins Gymnasium brauchte sie gerade mal fünf Minuten. Jetzt pendelt sie nach Bern an die Uni. Ausziehen ist vorläufig kein Thema für sie, zu schön ist es in der Bieler Seevorstadt.
Die jüngere Tochter absolviert aktuell ein Praktikum in Nidau. Sie fährt mit dem Velo dem See entlang zur Arbeit, während sich Markus Neuenschwander für seinen Arbeitsweg ins Spitalzentrum, wo er in der Medizintechnik arbeitet, auf die Vespa schwingt: «Die Wohnlage ist einmalig. Fürs Mittagessen kann ich nachhause, am Abend bin ich sehr schnell daheim und kann den See geniessen.»
Im Sommer liebt er es, am Morgen vor der Arbeit schnell in den See zu springen. Danach gehe man den Tag ganz anders an, schwärmt er. Solche Lebensqualität würde er vermissen, müsste die Familie von hier wegziehen. «Für mich ist es immer noch meine Traumwohnung», schwärmt er. Eigentlich sei es fast, wie in einem eigenen, freistehenden Hüsli: Musik hören oder mitten in der Nacht Wäsche waschen sei hier kein Problem. Sie hätten coole Nachbarn, mit denen sie sich gut verstünden.
Als sie vor 18 Jahren etwas Grösseres suchten, sind sie durch ein Inserat auf die Wohnung aufmerksam geworden – und haben sich auf der Stelle in sie verliebt. Der rege Verkehr in der Seevorstadt habe sie nie gestört, sagt Markus Neuenschwander. Im Gegenteil: Wenn es Stau gebe, sei es besonders ruhig, weil die Autos dann nicht durchbrettern können, sagt er. Wirklich laut seien vor allem die Güterzüge, die das Haus zum Beben bringen, wenn sie über den Bahndamm fahren. Aber auch daran hätten sie sich gewöhnt.
Wegen des angedrohten Abbruchs, haben die Hausbesitzer in den letzten Jahren nicht mehr gross in den Unterhalt investiert. Das sei nicht weiter schlimm, findet Markus Neuenschwander. Das Haus sei in sehr gutem Zustand. «Heute baut man wohl keine Häuser mehr, die hundertjährig werden – früher war das noch anders. Diese Liegenschaft würde wohl noch lange leben, wenn man sie nur liesse», meint er.
Er weiss, dass es verschiedene Vereine und Komitees gibt, die das aktuelle A5-Westastprojekt bekämpfen. Die 16jährige Tochter sei sehr engagiert, habe auch geholfen, die gefährdeten Bäume zu markieren und würde die Familie stets auf dem Laufenden halten, sagt Markus Neuenschwander. Selber habe ihn die Sache bisher noch nicht so stark beschäftigt, dass er aktiv geworden wäre. Weil er das Gefühl hat, dass es ohnehin noch lange dauert, bis etwas geschieht – wenn überhaupt.
«Die Planung begann vor 45 Jahren», sagt er. «Man hat immer mal wieder darüber gelesen und gehört – konkreter wurde es erst mit dem Bau des Ostasts.» Er habe nie daran geglaubt, dass dieser Westast wirklich kommt. Heute jedoch ist er gespalten: Einerseits bestehe die Möglichkeit, dass Bund und Kanton – so stur und starrköpfig wie sie seien – die gesprochenen Gelder nun ausgeben und das Projekt durchziehen wollen. Andererseits bestehe die Hoffnung, dass die Behörden und Politiker vernünftig genug seien, um zu merken, dass es kein zeitgemässes Projekt mehr sei. «Die Mobilität wird sich verändern, die Evolution geht so schnell. Ich zweifle daran, dass es diese Autobahn in 15 Jahren noch braucht.»
Die Mobilität werde sich total verändern, ist Markus Neuenschwander überzeugt. Zudem zeigt der Ostast bereits Wirkung, so dass man sich fragen müsse, für was dieser Westast überhaupt noch gebaut werden soll.
Falls es entgegen jeglicher Vernunft doch noch soweit kommen sollte, dass die Bagger auffahren, wäre das frühestens in fünf bis sechs Jahren, rechnet Markus Neuenschwander aus. Bis dann wären die Töchter ausgeflogen, so dass sich Manuela und Markus eine kleinere Bleibe suchen würden: «Käme die Autobahn, würden wir in eine ländlichere Gegend ziehen, oder wenn ich noch im Spitalzentrum arbeite, eher in diese Richtung – vorausgesetzt, wir finden dort etwas, das wir bezahlen können.» Was er auf keinen Fall will: Während der 15jährigen Bauzeit in der Stadt wohnen.
Text: © Gabriela Neuhaus, November 2017