DAS VERGESSENE LOCH

Wir wissen es längst: Gewiefte Ingenieure und ausgewiesene Könner ihres Fachs durchlöchern unsere Stadt. Nach zehnjähriger Bauzeit war es im letzten Herbst endlich soweit: Die eindrücklichen Autobahnlöcher des sogenannten A5-Ostasts wurden fürs Publikum geöffnet und können seither rund  um die Uhr besichtigt werden. Mit ihrer magischen Beleuchtung und dem grosszügig bemessenen Radius strahlen sie eine Tunnelaura aus, wie man sie nicht oft antrifft.

Doch es wird noch besser kommen! Mit den Westastlöchern soll die Stadt das teuerste Strassenkunstwerk der Schweiz erhalten! Besonders reizvoll: Die beiden offenen Schneisen mitten in der Stadt, die den Blick hinunter zu den tiefliegenden Tunnellöchern erlauben.

Dort unten wird – einem Perpetuum mobile gleich – nicht endend wollender Verkehr fliessen. Doch nicht nur das Auge wird auf seine Rechnung kommen. Begleitet wird das Schauspiel von passendem Sound und Duft, ein wahrhaft ganzheitliches Kunstwerk.

Für ein solches Werk, das von den Stadtoberen mit vollmundigen Versprechungen angekündigt wird, darf weder eine 20jährige Bauzeit noch der Preis von gut zwei Milliarden Franken zu hoch sein. Zumal dieses Kunstwerk die Stadtkasse bekanntlich kaum belasten soll.

Trotzdem gibt es Widerstand. Und neuerdings sogar die Idee, ein Loch ganz ohne Einblicke von oben zu kreieren. So, dass wer das Loch erleben will, gezwungenermassen hindurch muss. Einzig an den Tunnelportalen wäre noch ein beschränkter Einblick möglich – aber das wäre dann schon nicht mehr auf Bieler Boden…

Vielleicht sind die BielerInnen eben doch nicht so kunstaffin, wie sie sich gerne geben? Oder sie haben einfach keinen echten Sinn für Löcher? Denn eigentlich sind sie seit Jahrzehnten im Besitz eines kunstvollen Lochs. Eines exquisiten Lochs, das alle Strassentunnellöcher toppt, obschon es nur 7 x 5,8 x 5,2 Meter klein ist.

Es handelt sich um das Werk «Das Loch» des Zürcher Künstlers Raffael Benazzi, das er 1966 in Biel anlässlich der Plastikausstellung  geschaffen hat. «Ein Schatz,» wie der Bieler Künstler Daniel Hauser schreibt, «vergleichbar mit Gaudis Sagrada Familia in Barcelona, nur unterirdisch und bedeutend kleiner.»

Kaum jemand in Biel mag sich an dieses Kunstwerk erinnern. Was nicht weiter erstaunt, denn heute liegt es unter einer Betonplatte begraben – nach dem Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn. Genauso, wie es manche BielerInnen gerne mit den Autos machen würden, ist man mit dem ungeliebten Werk verfahren, wie Daniel Hauser in seinem BT-Artikel von 2016 schreibt: «Hat das Loch mit dazu beigetragen, dass der Künstler Raffael Benazzi in Europa und den USA rasch bekannt wurde, so war dasselbe Loch ebenso schnell unbeliebt. Es wird erzählt, dass die lokale Presse das Loch verunglimpft habe. Und die Stadtbehörden haben das sich sammelnde Regenwasser, reingeworfene Abfälle, die schwierige Instandhaltung und die Höhe als Sicherheitsrisiko dankbar als Argumente gesammelt, um das Loch in Raten zu beseitigen.»

Geblieben ist einzig ein Betondeckel im Park des Kongresshauses, das im gleichen Jahr, als der Künstler sein Loch schuf, eingeweiht worden ist. Im Werkbeschrieb der Stadt Biel steht, was unserem Auge vorenthalten wird: «Es sind Huldigungen an die Schönheit, die seine Figuren vermitteln. Die gegossene, aus organischen Formen geschaffene Betonplastik «Das Loch, Versuch einer unterirdischen plastischen Bewegung» befindet sich hinter dem Kongresshaus, doch nicht sichtbar, unter einem niederen quadratischen Betonsockel in den Boden eingelassen. Eine vollends begrabene Plastik war eigentlich nicht Intention des Künstlers.»

So geht es, mit den Löchern: nicht immer versteht die Nachwelt, was der Schöpfer eigentlich gewollt hat. Deshalb ist vielleicht die Moral von der Geschichte: Ein ungeliebtes Loch in Biel reicht. Öffnet es – und lasst die Finger vor all den neuen geplanten Autobahn-Löchern! Denn deren Unbeliebtheit wird um ein Vielfaches grösser sein, als dies bei Benazzis Loch der Fall war. Und ein Betondeckel wie beim Kongresshaus würde bei weitem nicht ausreichen, um sie aus dem Stadtbild zu tilgen…

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