LEBEN, WO PARKPLÄTZE GEPLANT WAREN

Eine schmale Holztreppe führt in den ersten Stock, wo sich linkerhand die Küche mit dem Gemeinschaftsraum befindet. Über der Theke hängt eine eindrückliche Anzahl Pfannen, an der Wand ein gut bestücktes Gewürzregal. Daneben einige Obstkisten mit saisongerechten Gemüsevorräten: Lauch, Kabis und Rüebli, die schon bessere Zeiten gesehen haben… Hier wird offenbar oft und leidenschaftlich gekocht.

Auf einem alten Sofa liegt die aktuelle WOZ, mitten im Raum ein Töggelikasten, an der Wand eine Dart-Zielscheibe und ein Kleber mit der Aufschrift «The Rich are ugly». Es ist Montagabend, kurz vor 19 Uhr. Nach und nach treffen die HausbewohnerInnen ein. Manche begleitet von ihren Hunden. Antoine angelt sich ein Schreibheft, das neben der Küchenablage deponiert ist: Er ist heute für das Protokoll zuständig.

Fotos: © Anita Vozza, 2018

An der wöchentlichen Sitzung des Kollektivs La Biu planen die elf HausbewohnerInnen gemeinsam ihre Aktivitäten und diskutieren anstehende Fragen. «Das Ziel ist, dass wir uns bei einem Entscheid alle einig sind», sagt Antoine Rubin. «Wir funktionieren nach Konsens.» Das sei nicht immer einfach – wenn verschiedene Menschen zusammenlebten, gebe es auch unterschiedliche Bedürfnisse, ergänzt er. Etwa in Bezug auf die Sauberkeit.

Doch für Antoine, der in St. Imier aufgewachsen ist und in Lausanne und Neuenburg studiert hat, sind solche Konflikte zweitrangig. Was für den 28jährigen Anthropologen und Schriftsteller zählt, ist das soziale Experiment: Die Gemeinschaft, die kollektive Lebensform, das kulturelle Engagement. La Biu, sagt er, sei ein Ort, wo man alternative Formen des Zusammenlebens ausprobieren könne.

Das Doppelhaus am Wydenauweg 40 wurde vor 120 Jahren für die Unterbringung von Bahnarbeitern gebaut. Entsprechend klein und bescheiden waren die Wohnungen. Im Lauf der Zeit wechselten Hausbesitzer und Mieterschaft. Vor gut zehn Jahren kaufte der Kanton Bern die Liegenschaft, die auf dem Areal der geplanten A5-Westastbaustelle steht. Die kantonale Verwaltung kündigte den MieterInnen, wollte das alte Haus abreissen und auf dem Grundstück elf Parkplätze erstellen.

«Um den Abriss zu verhindern, hat 2007 eine Gruppe von Leuten das Haus besetzt. Für soziale und kollektive Projekte – und mit dem politischen Ziel, für die Bevölkerung erschwinglichen Wohnraum zu erhalten, die drohende Gentrifizierung zu bekämpfen», erinnert sich Antoine. Er wohnte damals noch nicht in Biel, war aber in der Hausbesetzer-Bewegung aktiv.

Diese erreichte, mit Unterstützung der Bieler Grünen und SP, dass der Kanton schliesslich das Parkplatz-Projekt aufgab und mit den HausbesetzerInnen einen Vertrag abschloss: Seither bezahlen die BewohnerInnen für das Doppelhaus am Wydenauweg 40 dem Tiefbauamt in Bern monatlich 600 Franken Miete – soviel, wie die Parkplätze eingebracht hätten.

«Heute ist das La Biu legal», sagt Antoine. «Nebst der symbolischen Miete bezahlen wir natürlich auch Strom und Wasser.» Von den BesetzerInnen der ersten Stunde wohnt niemand mehr im Haus. Das Kollektiv hat sich stark verändert, unter dem Dutzend HausbewohnerInnen gibt es rege Wechsel.

Antoine lebt seit fünf Jahren im alten Mietshaus. Sein Zimmer liegt im obersten Stock, gleich unter dem Dach. Wir ducken uns durch einen engen Mauerdurchbruch, den die HausbewohnerInnen in die Wand geschlagen haben, um die beiden Treppenhäuser des Doppelmehrfamilienhauses miteinander zu verbinden.

«Es sieht improvisiert aus, aber wir haben darauf geachtet, dass die tragende Funktion der Wand nicht beeinträchtigt wird und sogar eine Tür eingebaut, als Feuerschutz», kommentiert Antoine, während wir hinaufsteigen, an Schuhregalen und bunt überklebten Wänden vorbei.

Ein kurzer Korridor, eine schmale Holztür und wir stehen in seinem Reich. Auch hier eine durchgeschlagene Wand: Zwei ehemals kleine düstere Kammern wurden in ein lichtdurchflutetes Refugium umfunktioniert. Backsteinkanten umrahmen den Durchblick von der Wohn- in die Schlafecke. Ein Holzofen sorgt für Wärme.

Die Polstergruppe ist ein Erbstück: Einst zierten die eleganten Louis-Toujours-Stücke den Salon von Antoines Grosseltern. In einer Ecke steht eine alte Reiseschreibmaschine neben einem Globus. Natürlich schreibe er seine Texte auf dem Computer, lacht Antoine. Trotzdem: Ab und zu benütze er die Schreibmaschine, weil er den Klang der Tasten liebe.

An den Wänden zahlreiche Landkarten: Eine Karte der Schweiz, eine vom Bielersee, vom Aletschgletscher und eine Übersicht von Island. – Warum ausgerechnet Island? Antoine war noch nie dort – aber die Karte habe ihm gefallen. Genauso, wie der leere Goldrahmen, der ein Stück weisse Wand umrahmt. «Ich mag ihn, er hing bereits in meinem Zimmer in Lausanne an der Wand – jeder kann darin sehen, was er will.»

Ein alter Überseekoffer beherbergt Antoines Bibliothek. Bücher auch im Gestell an der Wand. Darunter ein Survival-Guide der amerikanischen Armee. Das Buch gehöre seinem Freund und Schriftsteller-Kollegen José, der ebenfalls im La Biu lebt und mit dem er oft in der Natur unterwegs sei, erklärt Antoine.

Unterwegs sein, Reisen in all seinen Formen – das sind Antoines Themen. Sein erstes Buch, das im Bieler Verlag Editions du Noyau erschienen ist, heisst «Le chant des containers», das zweite «Wanderlust». 2017 reiste er mit einem Containerschiff nach New York, wo er – ermöglicht durch ein Auslandstipendium des Kantons Bern für Kulturschaffende – sechs Monate lebte und an seinem ersten langen Roman schrieb.

Schreiben, sagt Antoine, sei für ihn Ausdruck einer politischen Haltung. Als ausgebildeter Anthropologe forme er gerne Stoffe aus der Realität zu Geschichten. «Diese Geschichten sind aber stets Fiktion» betont er und ergänzt: «Jeder Text ist Fiktion, für mich ist auch Journalismus nichts anderes als Fiktion.»

Fiktion aber, mit der er durchaus Einfluss nehmen will, auf die «reale Welt». Deshalb thematisierte er im letzten Jahr auch das Zerstörungsprojekt der A5-Autobahn in zwei Texten. In einer Erzählung, die demnächst in einem Sammelband publiziert wird, geht es um einen Protagonisten, der genau wie Antoine selber, durch die Autobahn sein Daheim verliert. Und an einer Feier des französischen Gymnasiums am See hat er einen poetischen Text vorgelesen, in dem die drohende Baustelle eine zentrale Rolle spielt.

Mit der geplanten Westastbaustelle und Autobahn würden Räume zubetoniert und Freiräume zerstört. Dabei ist das La Biu wohl ein Extrembeispiel, das vielen auch ein Dorn im Auge ist. «Nicht wenige würden sich freuen, wenn das La Biu verschwände» weiss auch Antoine. Weil manche Leute Mühe hätten mit der Art, wie sie lebten. Schon die Ansammlung von Ramsch rund um das Haus würden viele abschrecken.

«In der Schweiz hat die Hausbesetzerszene einen schlechten Ruf, man hält uns für Profiteure» sagt Antoine. Für ihn ist die Tatsache, dass man im auf Zeit geretteten Abbruchhaus mit wenig Geld leben kann, aber nur ein Aspekt des Ganzen. La Biu, betont er, stehe allen offen und sei deshalb auch Zufluchtsort für viele, die sonst auf der Strasse stehen würden.

Das Kollektiv betreibt im Parterre denn auch einen «Free Shop» – ein Brockenhaus, wo alte, noch brauchbare Ware gratis entgegengenommen und abgegeben wird. Nebenan, im La Biu Bistro, finden regelmässig Konzerte und Lesungen statt – gratis.

Antoine sieht im La Biu aber noch ganz andere Vorteile: Im Kollektiv versammelten sich Fähigkeiten und Fertigkeiten aller Art. Als er eingezogen sei, habe er kaum gewusst, wie man mit einem Hammer oder Schraubenzieher umgeht. Dies hätten ihm seine MitbewohnerInnen aber schnell beigebracht. Nicht zuletzt, weil es in diesem Haus ständig etwas zu Reparieren gebe… «Man hilft sich gegenseitig, so müssen wir keine Dienstleistungen einkaufen», sagt Antoine. «Das ist eine Form von Autonomie.»

Einmalig sei aber auch der Raum, der La Biu Kulturschaffenden biete: Hier konnte er, in geschütztem Rahmen, vor Heimpublikum, seine ersten Lesungen halten. Es gebe auch zahlreiche Bands, die ihre ersten Konzerterfahrungen im La Biu gesammelt hätten und heute schweizweit bekannt seien.

Jeden Donnerstag ist zudem Bistro-Abend: Dann kocht das Kollektiv ein Nachtessen, zu dem alle Hungrigen und Neugierigen eingeladen sind. Man bezahlt dafür, soviel man will oder kann. Meist bewirten die KöchInnen des La Biu Familie, FreundInnen, Bekannte – Leute aus dem engeren Kreis der Szene. «Eigentlich schade», meint Antoine, der sich wünscht, dass künftig noch viel mehr Menschen die nicht-kommerziellen Angebote und offenen Türen des La Biu nutzen…

Text: © Gabriela Neuhaus, Januar 2018

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